Theaterkritik | Festival "Radar Ost" am Deutschen Theater - Wie erzählt die Kunst vom Krieg?
Zum fünften Mal zeigt das Deutsche Theater in Berlin mit "Radar Ost" neues Theater aus Ost-Europa. Bislang waren immer auch Produktionen aus Russland zu sehen, für die aktuelle Ausgabe hat man sich für einen Ukraine-Schwerpunkt entschieden. Von Barbara Behrendt
Kann Kunst vom Krieg erzählen? Diese Frage, die über der aktuellen "Radar-Ost"-Ausgabe steht, nennt die Festival-Kuratorin Birgit Lengers zu Recht eine rhetorische. "Natürlich kann Kunst das. Das tut sie schon seit Beginn des Theaters. Schon Aischylos hat mit den Persern vom Krieg erzählt. Unsere Frage ist: Wie macht das Theater das? Mit welchen Formen, mit welchen Motiven, mit welchen Ästhetiken, mit welcher Haltung?"
Bei der Eröffnung des Festivals, das seit seiner Gründung vor fünf Jahren zur wichtigsten Berliner Bühne für Theatermacher:innen aus Osteuropa und Russland geworden ist, ist es zunächst die Musik, die bewegend vom Krieg erzählt. Svetlana Kundish und Mariana Sadovska singen ein ukrainisches, jiddisches Volkslied über einen sterbenden Soldaten, der den Vogel über ihm bittet, der Mutter nichts von seinem Tod zu berichten.
"Hamlet without Me"
Auch bei der anschließenden Uraufführung vom Left Bank Theatre in Kiew, in Koproduktion mit dem Deutschen Theater, klingen poetische Töne an. Die Inszenierung der erfolgreichen Regisseurin Tamara Trunova sollte ursprünglich in Kiew Premiere feiern, Plakate waren schon gedruckt: "Hamlet" stand darauf – Probenbeginn am 24.2.2022. Am Tag der russischen Invasion. Auf dem Programmzettel in Berlin steht nun "Halt" statt "Hamlet", das M und E, also das "Me" ist durch Sternchen ersetzt. "Hamlet without Me" erklärt die Regisseurin, "Hamlet ohne mich".
Und so ist aus dem Drama um den zaudernden dänischen Prinzen ein Stück ohne Stück geworden, eine Leerstelle, eine Geschichte, die sich allein im Kopf der Schauspieler:innen abspielt. Auf der Bühne zunächst nur ein paar Stühle, Oleh Stefan begrüßt zum Publikumsgespräch, so als hätten wir die "Hamlet"-Vorstellung soeben auf der Bühne gesehen. Und als seien wir im Left Bank Theatre in Kiew.
Man warte, sagt er, nur noch auf die Kolleg:innen in der Garderobe, dann könne das Gespräch beginnen. Als die dann eintreffen, wird klar: Das komplette Ensemble lebt in einer imaginierten Welt, in der der Krieg nie ausgebrochen ist: Was seien das noch für Zeiten gewesen, erzählen sie, als man Krieg in der Ukraine zu befürchten hatte. Es dauert lange, bis die Schauspieler:innen begreifen: Wir sind nicht in Kiew und es gab auch keine Hamlet-Aufführung. Doch vielleicht ist diese Realität selbst nur ein böser Traum? Wie zum Beweis rattert der eiserne Vorhang nach oben und legt sechs blutrote Weihnachtsbäume frei, die es doch unmöglich in der Wirklichkeit geben kann.
Ein Nicht-Sein im Exil
Erst als ein Kollege, der im "Hamlet" mitspielen sollte, per Video von der Front zugeschaltet wird, dringt der Kriegsalltag ins Bewusstsein der Schauspieler:innen vor. Und auch wieder nicht. Denn sie kämpfen ja nicht mit Waffen. Eine Vorhölle sei ihre Existenz, sagen sie, ein Zwischenzustand, ein Nicht-Sein im Exil. Oder doch Sein? In ihren somnambulen Monologen mäandern sie durch berühmte Hamlet-Verse und finden weder Halt noch Antworten. Der Rest ist Schweigen? Träum ich, wach ich? Sich waffnend gegen eine See voll Plagen?
Gegen Ende manifestiert sich die Realität immer stärker – während die Spieler:innen fürs deutsche Publikum zur Unterhaltung einen Volkstanz aufführen, schreien sie mit zynischem Jauchzen die Namen ukrainischer Gefallener heraus.
Ironisch-bitter erzählen sie, wie der Krieg ihre Karriere angeheizt hat: Oleh Stefan hat sogar schon an der Berliner Schaubühne gespielt – auch dort ging es übrigens um den abgesagten "Hamlet" in Kiew. Allerdings kreiste der Schaubühnen-Abend deutlich politisch direkter um die Frage, ob Künstler:innen zur Waffe greifen sollten.
Ratlosigkeit ist die Haltung, von der sie vom Krieg erzählt
Tamara Trunovas "Halt" wirkt nachdenklicher, verlorener. Bei Trunova kriecht der Krieg übers Unterbewusstsein herein. Die Inszenierung ist jedoch auch verklausulierter, sperriger und extrem wortreich. In der deutschen Übertitelung zudem schwer zu entschlüsseln. Trotzdem gelingt mit dieser Uraufführung ein sehr ehrlicher Festivalauftakt. Ratlosigkeit ist die Haltung, mit der sie vom Krieg erzählt und vom trostlos Unbehausten der Künstler:innen im Exil.
Noch bis Sonntag gastieren bei "Radar Ost" Inszenierungen aus der Ukraine, aus Belarus, Georgien und Slowenien. Alle Stücke sind unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges in Schutzräumen in Kiew, auf Festivals, im Exil in London und Paris herausgekommen oder feiern erst jetzt in Berlin ihre Uraufführung.
In "Dogs of Europe" hat sich Russland im Jahr 2049 über die halbe Welt ausgedehnt
"Dogs of Europe" vom Belarus Free Theatre hatte 2022 in London Uraufführung und zeigt in Berlin nun seine Deutschlandpremiere. Im Ansatz unterscheidet sich die Arbeit stark von "Halt", doch die energetische, körperliche, emotionale, auch pathetische Theatersprache eint die beiden Produktionen. Gesang und Trommel gehen bei "Dogs of Europe" durch Mark und Bein. Statt eines Bühnenbilds blickt man im ersten Teil auf eine große Leinwand, auf der die unterschiedlichen Stationen der Erzählung wie bei einem Computerspiel erscheinen und weiterziehen.
"Dogs of Europe" ist die Bühnenadaption eines Romans, der in Belarus inzwischen verboten ist. Er imaginiert die Welt 2049: Russland hat sich zum diktatorischen "Großen Reich" über die halbe Welt ausgedehnt, Belarus gibt es nicht mehr. Eine unüberbrückbare Mauer trennt das "Große Reich" vom "Bund der Europäischen Staaten". Eine brisante Ausgangslage. Allerdings bleibt die Dystopie, die von hier aus aufgefächert wird, schwer nachvollziehbar: ein Spion, gekaperte Inseln, ein mysteriöser Todesfall in einem Berliner Hotel, Gänsefedern und verbotene Bücher von anonymen Autoren – ohne Romankenntnis (das Buch ist nicht ins Deutsche übersetzt) bleibt das allzu kryptisch.
Politisch wird es dann noch einmal beim Schlussapplaus: Das Ensemble tritt mit riesigem "Stand With Ukraine"-Plakat auf die Bühne und die Co-Regisseurin Natalia Kalida spricht aufrüttelnde Worte: Alle Menschen, die wir auf der Bühne sehen, sagt sie, saßen in Belarus im Gefängnis oder haben im Krieg gekämpft. Aus Deutschland heraus hätten wir dafür Sorge zu tragen, dass die europäischen Werte in der Ukraine verteidigt werden. "Für die Demokratie muss man etwas tun."
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.03.2023, 12:15 Uhr