Szenische Lesung zum Holocaustgedenken - Überwintern bis zur nächsten Diktatur

Di 30.01.24 | 08:41 Uhr | Von Barbara Behrendt
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Darsteller:innen auf der Bühne, vier sitzend, einer stehend. (Quelle: rbb24)
Audio: rbb24 Inforadio | 30.01.2024 | Bild: rbb24

"Ratten auf der Flucht" heißt ein neues dokumentarisches Stück über den katholischen Bischof Alois Hudal, Fluchthelfer zahlreicher Nazi-Kriegsverbrecher. Es ist eine gewichtige Geschichtsstunde in einer szenischen Lesung am Berliner Ensemble. Von Barbara Behrendt

Bevor es an diesem Abend am Berliner Ensemble zum Kern, zur szenischen Lesung des neuen Stücks "Ratten auf der Flucht" kommt, fallen auf der Bühne noch viele gewichtige, mahnende Worte. Schließlich geht es hier zwei Tage nach dem Holocaust-Gedenktag (27. Januar) um nichts Geringeres als um das "Systemversagen im Nachkriegsdeutschland", wie die Ilse-Holzapfel-Stiftung ankündigt. Und da gibt es angesichts von steigendem Judenhass und einer rechtsextremen Partei, die Millionen Menschen aus Deutschland deportieren will, von Prominenten Gästen einiges zu sagen.

Israels Botschafter Ron Prosor fordert uneingeschränkte Solidarität mit Israel nach dem 7. Oktober – und kritisiert weiterhin scharf die Kulturszene: "Heute ist der Ausbruch von Antisemitismus in der Kulturszene unübersehbar. Doch statt klaren Positionierungen gegen Antisemitismus entbrennt eine Debatte über Definitionen und Deutungshoheit. Es ist höchste Zeit, jetzt zu handeln."

Nationalsozialistisches Gedankengift bekämpfen

Und die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt appelliert: "Nie wieder ist nicht nur jetzt. Nie wieder ist jeden Tag, ist immer. Für unser Land kommt es darauf an, für unser Europa, für die Welt, das nationalsozialistische Gedankengift immer und überall zu bekämpfen." Eine Stunde Null, sagt sie, habe es nämlich in Deutschland nie gegeben. Auch nicht 1945.

Genau dort setzt Alexander Pfeuffers dokumentarisches Stück an. Ein schwarzgekleideter Chor aus vier Opfern des NS-Regimes tritt auf, vier Erzählstimmen, die aufs Kriegsende zurückblicken. Als alles in Schutt und Asche lag. Doch einigen wird damals geholfen. Der österreichische Bischof Alois Hudal, tätig in Rom, der Katholische Kirche und Nationalsozialismus zu vereinen suchte, verkauft es in seinen Memoiren als Nächstenliebe, den KZ-Leitern, Folterern und Massenmördern einen Fluchtweg in den Nahen Osten oder nach Südamerika verschafft zu haben: "Unschuldig, könnte man sagen, verfolgt. Jemand, der meine gütige Hilfe verdiente."

Über die "Klosterlinie" verhalfen katholische Kleriker Nazi-Verbrechern zur Flucht

Der hier von Hudal als "unschuldig" Bezeichnete ist SS-Standartenführer Walther Rauff. Erfinder der Gaswagen, den Vorläufern der Gaskammern. Etwa 200.000 Menschen wurden in den Wagen erstickt. Rauff wird 1945 verhaftet, dann jedoch in ein Militärhospital verlegt, wo ihm ein Priester zur Flucht verhilft. Über die sogenannte "Klosterlinie", Gotteshäuser voller katholischer Nazi-Fluchthelfer, gelangt er nach Rom, wo er auf Hudal trifft: "Rauff brauchte Pässe, die seine Biografie und sein früheres Leben verbargen. Auch dieses Problems nahm ich mich sogleich gewissenhaft an."

Während der Chor wie am Richtertisch den Text liest, steht der Schauspieler Uwe Preuss am Pult – gleichzeitig Prediger und Angeklagter. Doch niemand spielt hier eine Rolle, alle lesen nüchtern, monoton – vermutlich, um nicht in falsches Pathos zu gleiten.

Auch die Nachrichtendienste und das Rote Kreuz hängen mit drin

Mit der Hilfe von Hudal gelangt Rauff nach Ecuador, wo bereits eine Stellung bei der Bayer AG auf ihn wartet. Das ist noch immer das Unbegreiflichste an der Flucht der Kriegsverbrecher: Nicht nur glühende Nazibischöfe sind hier Strippenzieher, auch der BND und die amerikanischen Nachrichtendienste haben ein Interesse an neuen antikommunistischen Spitzeln in Südamerika. Die Wirtschaft freut sich über deutsche Expertise. Und das Rote Kreuz liefert die gefälschten Pässe.

Bis zur nächsten Diktatur: "Und als im Jahre 1973 sein alter Bekannter Augusto Pinochet putschte, da konnte Rauff seine Talente erneut zur Anwendung bringen. Er galt als Spezialist für die "Solución final", die Endlösung, die Pinochet für alle politischen Gegner ausgerufen hatte. Dafür organisierte Rauff den Bau eines Konzentrationslagers in der Wüste von Atacama. Geschichte wiederholt sich. Warum also mühevoll neue Antworten suchen, wenn da einer ist, der sie schon hat."

Rauff ist nur einer von vielen, der über die Klosterlinie und die sogenannte "Rattenlinie" entkommen ist. Man könnte auch Klaus Barbie nennen, den Schlächter von Lyon, oder Otto von Wächter, den Judenmassenmörder von Krakau. Oder Franz Stangl, der Lagerkommandant der Vernichtungslager in Sobibor und Treblinka.

In der Traditionslinie von Rolf Hochhuth

Der Dramatiker Rolf Hochhuth hat mit seinem Doku-Stück "Der Stellvertreter" in den 1960er Jahren eine der größten Theaterdebatten der Bundesrepublik ausgelöst: Es war das erste Stück, das sich mit der Haltung des Papstes zum Holocaust beschäftigte. Schweigen und Wegschauen war im Vatikan die Devise.

Die Ilse-Holzapfel-Stiftung, die Hochhuth später gründete, bleibt nun also am Thema dran: Vergangenes Jahr wurden am Berliner Ensemble stellvertretend fünf von 15.000 Briefen auf der Bühne gelesen, die verfolgte Juden in ihrer Verzweiflung an den damaligen Papst Pius XII. geschrieben hatten – erst 2020 wurden diese Archive geöffnet. Und jetzt präsentiert die Stiftung Pfeuffers "Ratten auf der Flucht". Ästhetisch betrachtet wird an diesem Abend weniger ein Theaterstück gelesen als eine dokumentarische Narration mit verschiedenen Sprechern. Doch lehrreich ist diese lange, düstere Geschichtsstunde unbedingt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 30.01.2024, 6:55 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

2 Kommentare

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  1. 2.

    Erst gab es Reden von verschiedenen politischen Persönlichkeiten. Und das zog sich ganz schön in die Länge – mit 45 Minuten in Überlänge. Vielleicht hätte man lieber Frau Friedländer bitten sollen, ein paar Worte zu sprechen. Die Szenische Lesung, die dann folgte, war sensationell! Vielen Dank dafür!

  2. 1.

    Leider gibt es wohl keine weiteren Aufführungen. Ich wäre gerne dabei gewesen.
    Warum macht der rbb keine Aufzeichnung und sendet sie später?

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