Frühkritik | "Die Affäre Rue de Lourcine" an der Schaubühne - Paranoia im Schlafgemach
Der Regisseur Jan Bosse macht aus Eugène Labiches berühmter Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" einen Horrortrip zwischen Realität und Albtraum. Mit einem exzellenten Komödianten in der Hauptrolle: Bastian Reiber. Von Barbara Behrendt
Was für ein gigantisches Bett. Man könnte neidisch werden. Meterweit ziehen sich die Decken darauf. So riesig ist es, dass Lenglumé die Quelle des Schnarchens, das er von außen hört, nachdem er sich erst übergeben und dann einen kräftigen Schluck aus der Blumenvase gegen seinen Kater genommen hat, zunächst gar nicht verorten kann. (Hier hat der Neid dann sein Ende, denn mit diesem Leidenden möchte man nicht tauschen.)
Erst als Lenglumé die blauen schweren Samtvorhänge, die bis unter die Bühnendecke hängen, mit einem kräftigen Ziehen an der Kordel ganz zur Seite bewegt hat, findet er zwischen den Kissen einen Mann, der genau so aussieht wie er selbst. Und doch ist er ihm völlig fremd. Sollte er etwa in der letzten Nacht tatsächlich einen Menschen männlichen Geschlechts abgeschleppt haben? An viel kann er sich nicht erinnern – nur, dass er sich beim Klassentreffen hat volllaufen lassen. Was es nun aber tunlichst vor seiner Frau zu verheimlichen gilt – hatte er sich doch am Abend extra früh wegen Migräne ins Bett verabschiedet.
Geniales Komödienhandwerk
Aber da rauscht sie, gespielt von Julia Schubert, auch schon herein: eine so geisterhaft weiß geschminkte Erscheinung in schrillem Kostüm, dass sie dem Reich der Toten entstiegen sein könnte.
Wie Bastian Reiber das Schnarchen aus dem Bett zu Bauchkrämpfen umdeutet, die ihn vor seiner Frau auf den Boden zwingen – sodass sie ihn sogleich wieder ins Bett schickt, das ist in allen minimalen Details geniales Komödienhandwerk. Besser als Bastian Reiber kann derzeit niemand am Theater eine derartig überdrehte Situationskomik performen, die mit einem Blick, einer Geste alles ins Komische zirkelt. Seinen Saufkumpan Mistingue spielt Damir Avdic, ebenfalls gekonnt als proletenhaftere Variante von Lenglumé. Lookalikes, die sich in einem Moment in den Armen liegen und sich im nächsten um die Ecke bringen wollen.
Doch der Regisseur Jan Bosse treibt seine Inszenierung der "Affäre Rue de Lourcine" von Anfang an nicht nur in den Slapstick, sondern auch in den Horror: in die Paranoia der Hauptfigur. Das passt durchaus zu dieser berühmten französischen Komödie, die Eugène Labiche 1857 geschrieben hat, steckt sie doch voller Doppelbödigkeiten. Lenglumé und Mistingue, der sich als früherer Mitschüler entpuppt, stoßen nämlich auf seltsame Dinge in ihren Taschen: Kohlenstücke und eine blonde Haarsträhne etwa. Als Lenglumés Frau dann beim Frühstück aus der Zeitung vorliest, dass in der Nacht eine Kohlenhändlerin von zwei betrunkenen Männern in der Rue de Lourcine ermordet worden ist, sind beide Männer sofort überzeugt, die Mörder zu sein.
Daraus entwickelt sich einerseits ein komisches Verwirr- und Vertuschungsspiel. Andererseits zeigt sich: Der zivilisatorische Firnis ist dünn. Unter der Bürgerlichkeit liegt nicht nur der Mord und die Lüge, sondern auch die Ich-Krise: Die feinen Bürger trauen es sich sofort zu, gemordet zu haben. Nur die anderen dürfen das nicht herauskriegen.
Das Bett wird zum Symbol der Vertuschung
Für dieses Zerbröseln aller Gewissheiten, die Auflösung des Ichs, die Paranoia, eignet sich das Monster-Bett hervorragend. Mit seinen Vorhängen, seinen vielen Kissen und Decken wird es zum Symbol der Vertuschung und des fließenden Übergangs zwischen Realität und Traum.
Sind Lenglumé und Mistingue in ihren Zwillingsoutfits womöglich nur zwei Seiten einer Person? Und warum tritt Lenglumés Frau alle fünf Minuten in einem neuen schrillen Kostüm auf? Spielt sich alles tatsächlich an einem einzigen Vormittag ab?
Albträume und Unterbewusstes
Noch irrer wird es, als sich die Kissen im Bett zu einem Schlund auftun und die Männer in die Unterbühne ziehen. Die Bilder, die dort unten von ihnen gefilmt werden, sind solche aus anderen Zeiten, aus Albträumen, Unterbewusstem. Und selbst, als sich zuletzt alles aufgeklärt hat und das Leben wieder in geordneten Bahnen fließen könnte, kann Lenglumé die Lebenden und die Toten nicht auseinanderhalten. Auf welcher Seite steht er selbst? Hier tut sich ein größerer Abgrund auf, als das Stück es nahelegt.
Doch obwohl Jan Bosses "Die Affäre Rue de Lourcine" schauspielerisch ein Genuss ist - auch Axel Wandtke glänzt als Diener Justin - und sich der Regisseur geradezu perfektionistisch allen Details widmet, kann der Abend nicht ganz an seine Erfolgsinszenierung "Eurotrash", mit Joachim Meyerhoff und Angela Winkler, heranreichen. Bei aller Komik und interessanter Wahrnehmungsverschiebung fährt der Abend letztlich doch zu sehr den skurrilen, paranoiden Horrortrip, als dass er uns etwas über uns selbst oder die Gesellschaft, in der wir leben, erzählen könnte. Schrecklich unterhaltsam ist er trotzdem.
Sendung: rbbKultur, 04.03.2024, 8:55 Uhr