ARD-Themenwoche | Geschichten vom Helfen – oder fehlender Hilfe - "Es sollte um Kompetenzen gehen, nicht die Ausbildung"

Mi 09.11.22 | 14:37 Uhr | Von Lena Dreyer
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Natalya Nepomnyashcha (Quelle: Daniel Hardge)
Daniel Hardge
rbb wissenszeit | 5.11.2022 | 14:30 Uhr | Bild: Daniel Hardge

Natalya Nepomnyashcha zog 2001 mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland. Sie wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Heute ist sie Social Entrepreneur mit Masterabschluss – ohne Abitur. Es war ein hart erkämpfter Aufstieg. Von Lena Dreyer

Einen Master ohne Abitur und Bachelor? Genau das hat Natalya geschafft. Ihre Eltern zogen mit ihr aus der Ukraine nach Deutschland und fanden keine Arbeit. Von da an lebte die Familie von Hartz IV. Natalya ging in Augsburg zur Schule – erst auf eine Hauptschule, dann wechselte sie auf eine Realschule. Im Anschluss absolvierte sie zwei Ausbildungen zur Fremdsprachenkorrespondentin sowie zur Übersetzerin und Dolmetscherin. Danach machte sie ihren Masterabschluss zu internationalen Beziehungen in Großbritannien – alles ohne Abitur und Bachelor.

Anschließend zog Natalya nach Berlin. Trotz akademischen Abschlusses fiel es ihr jedoch schwer hier eine Stelle in politischen Organisationen zu finden. "Gerade, wenn du im politischen Bereich suchst […] brauchst du ein Netzwerk, du brauchst Kontakte, musst entsprechend auftreten, du musst wissen, wie du überhaupt so einen Job suchst. Das alles hatte ich nicht." Deswegen musste sich Natalya zunächst selbst helfen und engagierte sich ehrenamtlich, um ihr Netzwerk aufzubauen. Erst nach diesem Schritt gelang es ihr einen Vollzeitjob zu bekommen. Sie arbeitete unter anderem für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) aus Westafrika und eine internationale Unternehmensberatung.

Natalya Nepomnyashcha im Gespräch bei rbb wissenszeit (Quelle: Daniel Hardge)
Natalya Nepomnyashcha im Gespräch bei rbb wissenszeit | Bild: Daniel Hardge

Hilfe für sozialen Aufstieg

"Ich bezeichne mich auf jedenfall als soziale Aufsteigerin", erzählt Natalya. Um auch anderen Menschen zu helfen, die aus ähnlichen Verhältnissen kommen, wie sie selbst, gründete sie 2016 das Projekt "Netzwerk Chancen". Dieses bietet eine Förderung im Bereich Workshops und Einzelcoaching, Interviewtrainings oder Netzwerkaufbau, für soziale Aufsteiger:innen zwischen 18 und 39 Jahren an. Zusätzlich arbeitet das Projekt mit Firmen zusammen und unterstützt bei der Jobvermittlung. "Ich wollte unbedingt etwas ändern. […] Wir müssen junge Menschen fördern, auch wenn sie mit dem Studium schon fertig sind oder mit der Ausbildung.", erklärt sie.

Wo kann ich mich engagieren?

Natalya ist sich sicher, dass sie ohne ihren akademischen Abschluss, also den Master, deutlich weniger Jobangebote bekommen hätte. Genau dort sieht Natalya in der Berufswelt jedoch auch das Problem: "Ich glaube, es gibt sehr viele Jobs wo es eigentlich um Fähigkeiten, um Kompetenzen gehen sollte. Ob du jetzt einen Hochschulabschluss hast, eine Ausbildung oder vielleicht gar keine Ausbildung, sondern dir diese Kompetenz dann auf anderen Wegen erarbeitet hast, darum sollte es gehen", sagt sie.

Aber warum engagieren sich Menschen wie Natalya oft zusätzlich zu einem stressigen Beruf und was passiert, wenn wir einander helfen?

Die Sache mit der Belohnung

"Helfen setzt viele verschiedene Prozesse voraus", erklärt Prof. Dr. Michael Niedeggen, Professor für Allgemeine Psychologie und Neuropsychologie an der Freien Universität Berlin. Der Schlüssel zum Helfen ist Empathie. Ist ein Mensch empathisch, kann er sich in die Situation Anderer besser hineinversetzen. Ein weiterer Schritt des Prozesses ist jedoch auch abzuwägen, welche positiven oder negativen Konsequenzen das Helfen selbst bringen würde. Zuletzt muss geplant werden, wie und ob das Helfen umgesetzt werden kann.

Bei all diesen Schritten simuliert der Mensch bereits auch, wie die Hilfe umgesetzt und angenommen werden könnte. In der Psychologie und Soziologie wird dieses vorwegnehmen von Szenarien Antizipation genannt. "Wenn ich antizipiere, dass das Helfen positive Konsequenzen für mich haben wird, dann bin ich eher dazu bereit zu helfen", erklärt Niedeggen. Bereits in diesem Prozess schüttet der Körper Hormone aus, die auf das Belohnungssystem wirken. Die bekanntesten sind Dopamin und Oxytocin. Somit löst nicht nur die Aktion an sich, also das Helfen, die positiven Gefühle aus. Vielmehr regt das vorher im Gehirn ausgemalte Szenario schon das Belohnungssystem an – und macht das Helfen wahrscheinlicher.

Sendung: rbb wissenszeit, 5.11.2022, 14:30 Uhr

"WIR gesucht! Was hält uns zusammen?" Die ARD-Themenwoche vom 6. bis 12. November 2022 zeigt aktuelle gesellschaftliche Konflikte – und mögliche Lösungswege.  

Neben Natalya Nepomnyashcha und ihrem Projekt "Netzwerk Chancen" berichtet die rbb-Reihe "Warum helfen wir (uns) nicht?" auch noch über drei weitere Menschen (ARD Mediathek) und ihren Geschichten vom Helfen – oder fehlender Hilfe. Klimaaktivistin Anny erzählt, wie sie ihren Weg zum Klimaaktivismus gefunden hat.

Anders als Natalya wuchs Tanja Brandes bereits in Deutschland auf. Sie erzählt von ihrem Buch "Ostfrauen verändern die Republik" und was die Menschen im Osten durch die Teilung Deutschlands für Leid und Existenznöte erlebten. Zahra Haidari erzählt, wie sie 2016 in Deutschland aufgenommen wurde und welche Hilfe und Unterstützung sie sich mehr gewünscht hätte.

Driftet die Gesellschaft auseinander in Alt und Jung, Arm und Reich, Trans und Cis, mit und ohne Einwanderungsgeschichte? Leben viele nur noch in ihrer eigenen Blase? Wo gibt es Räume für Dialog? Warum übersehen wir, was uns eint? Diese Fragen greift die Themenwoche in allen Programmen der ARD auf: im Fernsehen und Radio, in der ARD Mediathek und Audiothek, auf den Online- und Social-Media-Kanälen.

Der rbb bringt Perspektiven aus Berlin und Brandenburg mit ein.

Beitrag von Lena Dreyer

1 Kommentar

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  1. 1.

    Der Artikel ist ein gutes Beispiel für vollkommen verschobene Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache. Diese junge Frau hat mit viel Eigeninitiative und Fleiß den Aufstieg erreicht, nicht primär durch Hilfe. Sie hatte eben nicht das Anspruchsdenken, dass irgend jemand ihr schon helfen und den Weg bereiten wird. Nein, sie hat die Zähne zusammengebissen und mit viel Einsatz und Energie ihr Leben selbst in die Hand genommen und genau das braucht diese Gesellschaft wieder. Menschen, die die ihnen gebotenen Chancen in die eigene Hand nehmen und nicht bei kleinsten Widrigkeiten hinwerfen, sondern dran bleiben, nach dem Motto "Jetzt erst recht!". Unsere Gesellschaft mutiert aber immer mehr zu einer Vollkasko-Gesellschaft, die erwartet, dass der Staat alles für sie regelt und die Politik bedient das natürlich gern, weil dadurch deren Wichtigkeit steigt.

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