Hilfe nach Vergewaltigung - "Opfer von Vergewaltigungen müssen wissen, dass sie lange keine Ruhe haben werden"

Fr 23.06.23 | 18:51 Uhr
"Nein" steht in türkisfarbener Schrift auf einer Parkbank (Bild: imago images/Martin Schroeder)
Bild: imago images/Martin Schroeder

Eine 14-Jährige soll am Schlachtensee vergewaltigt worden sein, sie selbst erstattete gegen zwei Männer Anzeige. Nicht selbstverständlich, denn Betroffene stehen oft unter Schock. Psychologin Charlotte Hirz erklärt, wie und wo Opfer Hilfe bekommen.

Am Rande einer Feier am Schlachtensee soll eine Jugendliche vergewaltigt worden sein. Nach Angaben der Polizei fand die Tat am 9. Juni gegen 23 Uhr statt. Die 14-Jährige soll demnach gegen zwei mutmaßliche Täter selbst Anzeige erstattet haben und der Name eines Angezeigten der Polizei bereits bekannt sein. Zuerst berichtete die "B.Z." von dem Fall.

In den vergangenen vier Jahren haben die Fälle von Vergewaltigung sowie sexueller Nötigung und Übergriffe in Berlin zugenommen, im vergangenen Jahr zählte die Polizei über 1.700 Fälle [Polizeiliche Kriminalstatistik].

Charlotte Hirz ist klinische Psychologin mit dem Schwerpunkt Trauma und arbeitet bei "Lara e.V., Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen*". Im Jahr beraten sie und ihre Kolleginnen etwa 1.500 Frauen vor Ort, 4.000 weitere melden sich über die Hotline.

rbb|24: Frau Hirz, das 14-jährige Mädchen am Schlachtensee soll direkt nach der Vergewaltigung selbst zwei Männer angezeigt haben. Vielen Opfern ist das gar nicht möglich. Können Sie erklären, wie es Betroffenen nach so einer Tat geht und warum sie häufig keine Hilfe suchen?

Charlotte Hirz: Es gibt natürlich keine Standard-Reaktion, aber wenn eine Person massive Gewalt erleben musste, dann steht sie oft unter Schock oder ist traumatisiert. Sie haben dann erst einmal ein großes Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit, Reorientierung und Stabilisierung steht für sie im Vordergrund.

Dieser Wunsch beißt sich mit dem Prozess, der in Gang gesetzt wird, wenn die Person eine Anzeige schaltet oder medizinische Untersuchungen durchführen lässt. Das ist aber sehr individuell, manche Personen ziehen sich zurück und möchten gar nicht über das Erlebte sprechen. Anderen tut es gut, sich mit Freunden oder der Familie auszutauschen.

Wie können Angehörige die Opfer unterstützen?

Hirz: Das oberste Gebot ist es, dass die betroffene Person selbst entscheidet, was sie jetzt machen möchte. Ihre Bedürfnisse gehen vor. Man kann aber auf jeden Fall Hilfe anbieten, ohne Druck auf die betroffene Person auszuüben.

Wenn das Opfer wie im Fall am Schlachtensee entscheidet, den Fall zur Anzeige zu bringen: Was sollte es dann beachten?

Wir empfehlen, direkt eine Anzeige beim Landeskriminalamt zu erstatten, denn wenn man zur örtlichen Polizeiwache geht, muss man den Fall oftmals zwei Mal schildern. Das LKA ist aber zuständig.

Man muss sich darauf vorbereiten, dass die Befragung sehr unangenehm sein kann, weil sehr viele detaillierte Fragen über den Tathergang gestellt werden und diese Fragen auch oft wiederholt werden. Das kann sehr herausfordernd für jemand sein, der noch unter Schock steht.

Außerdem kann so eine Befragung lange dauern und die Sprache ist leider nicht immer sensibel. Darauf sollte man vorbereitet sein. Und deshalb ist es auch gut und wichtig, jemand zur Unterstützung mitzunehmen. Es sollte eine Person sein, die nichts mit der Tat selbst zu tun hatte.

Welche Rechte hat ein Opfer bei einer Befragung?

Die Person sollte auf jeden Fall sagen, wenn sie sich unwohl fühlt. Man kann um Pausen bitten oder darum, dass es eine andere Person macht, zum Beispiel dass eine Frau sie vernimmt und kein Mann. Das wird in der Regel auch gewährt. Man hat auch das Recht, einige Fragen nicht zu beantworten. Das sind wichtige Infos, die man in so einem Schockzustand oder auf so einer Polizeiwache auch schnell mal vergessen kann.

Was schildern eure Klientinnen: Geht die Berliner Polizei sensibel in den Vernehmungen mit ihnen um?

Das ist sehr unterschiedlich, wir hören beides. Es gibt sowohl den sehr unsensiblen Umgang, der für die Betroffenen extrem belastend ist - bis hin zu einem sehr sensiblen Umgang.

Welche medizinischen Schritte sind empfehlenswert?

Wichtig ist, dass man eine medizinische Untersuchung zeitnah macht, weil die Spurensicherung ein sehr zeitsensibles Verfahren ist.

In Berlin gibt es dafür eine offizielle Stelle, die Gewaltschutzambulanz der Charité, da muss man auch anrufen und einen Termin machen. Da kann man leider nicht zur nächsten Rettungsstelle oder ähnliches vorbeigehen.

Da werden die Spuren gesichert, die vor Gericht verwendet werden können. Und es geht um eine medizinische Erstversorgung, dass mögliche Verletzungen erst einmal medizinisch behandelt werden. Und gleichzeitig geht es hier darum, die Spuren für den Fall einer Anzeige auch rechtssicher aufzubewahren. Bei einer vertraulichen Spurensuche quasi, das lässt sich nicht bei einem normalen Arzt oder Ärztin aufbewahren.

Lara und andere Hilfsstellen sind vorbereitet, um Opfer sexueller Gewalt pschologisch und juristisch zu betreuen. Warum ist es empfehlenswert für die Betroffenen, nicht nur bei Polizei und Gewaltschutzambulanz Hilfe zu suchen, sondern auch Beratungsstellen aufzusuchen?

Wir haben eine parteiliche Haltung gegenüber den Betroffenen. Wir glauben denen alles, was sie uns erzählen und auch wenn sie uns bestimmte Details nicht erzählen, sind wir für sie da. Das heißt, wir bieten einen sichereren Raum, ich sag extra "sicherer", weil man davon ausgehen muss, dass es viele Räume gibt, wo es keine komplette Sicherheit gibt.

Hier sind die Betroffenen erst einmal nicht dazu aufgefordert, gleich zu erzählen, was ihnen passiert ist. Das heißt, wir schauen erstmal, wie können wir die Personen stabilisieren? Was kann die Person sich aneignen an Verhaltensweisen, um akuten Traumasituationen, zum Beispiel einer Panikattacke zu begegnen.

Das ist in der Regel der erste Schritt, den es auch braucht, damit man nicht im Laufe der Zeit eine Scheu vor bestimmten Orten oder Menschen entwickelt, die einen an die Tat erinnern. Oft ziehen sich in diesem Fall die Betroffenen zurück, das schränkt komplett die Lebensqualität ein. Und deshalb bestärken wir die Person darin, sich zu stabilisieren.

Traumata sind häufig psychische Reaktionen auf sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung. Was genau passiert dabei den Opfern?

Wenn der Körper nach massiver Gewalt unter Schock und Stress steht, wirkt das häufig lange Zeit nach. Häufig kommt es dann in der Konfrontation damit - also wenn sie darüber sprechen oder bestimmte Geräusche, Gerüche oder andere Dinge sie an die Tat oder an den Täter erinnern - dazu, dass die Erinnerungen zurückkehren. Das sind sogenannte Flashbacks. Bei einer traumatischen Reaktionen kann das Erlebte nicht verarbeitet werden, es wird also nicht ins Langzeitgedächtnis übertragen.

Stattdessen wird immer, wenn man daran erinnert wird, das Gefühl, man erlebt es wieder. Das kann nach Wochen, Monaten, sogar Jahren passieren. Erlebt man diese Gefahrensituation wieder, können die Personen Panikattacken bekommen, dabei hat man das Gefühl, man bekommt keine Luft mehr oder hat Herzrasen. Diese Personen können komplett dissoziieren, also quasi weggetreten sein und sind dann nicht mehr ansprechbar. Das Spektrum an Reaktionen ist sehr breit.

Wie könnt ihr Betroffene juristisch unterstützen?

Bei unserer rechtlichen Beratung schauen wir, wie wir Betroffene psychosozial im Prozess begleiten können. Wir schauen dann konkret, wie wir die Person beim Anzeige-Aufgeben unterstützen können. Wir können auch bei Vernehmungen oder dem Gericht dabei sein. Wir arbeiten auch mit Rechtsanwältinnen zusammen, die eine kostenlose Erstberatung ermöglichen, wenn man sich erstmal absichern möchte: "Hat das überhaupt Sinn, eine Anzeige zu schalten?". Weil die Betroffenen wissen müssen, dass sie lange keine Ruhe haben, wenn sie Anzeigen aufgeben. Viele Anzeigen werden ja aus Mangel an Beweisen fallengelassen oder es kommt manchmal noch nicht einmal zur Anzeige, weil unser Rechtssystem noch immer so aufgebaut ist, dass es im Zweifel für den Angeklagten heißt. Darüber informieren wir die Betroffenen.

Ratet ihr also von Anzeigen ab?

Nein. Wir plädieren für gar nichts. Das entscheidet die betroffene Person. Aber es ist wichtig und gut, zu wissen, worauf man sich einlässt und aufgeklärt zu sein, was es bedeutet, eine Anzeige zu machen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sendung: Inforadio, 24.06.2023, 6 Uhr

Das Interview führte Jenny Barke.

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