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Audio: rbb|24 | 25.08.2023 | O-Ton aus dem Interview mit Mareen Esmeier | Quelle: imago images/Vasily Deyneka

Interview mit Leiterin des Tierheims Berlin

"90 Prozent unserer Hunde sind schwer verhaltensauffällig"

Das Berliner Tierheim ist proppenvoll, alle Hunde-Zwinger sind bis auf den letzten Platz belegt. Die Vermittlung der Tiere ist nicht immer leicht, denn fast alle Interessenten suchen einen unkomplizierten Hund. Die meisten haben aber Auffälligkeiten.

Das Tierheim Berlin ist gnadenlos überfüllt. Immer wieder kommt der Vorwurf auf, das Tierheim vermittle zu wenige Tiere an Interessenten, die sich gern und gut um ein Tier kümmern könnten. rbb|24 hat mit der Leiterin des Tierheims zu den Vermittlungskriterien der Einrichtung und der Situation vor Ort gesprochen.

Zur Person

Mareen Esmeier

rbb|24: Hallo Frau Esmeier, wie ist das denn bei Ihnen - wer kriegt hundertprozentig kein Tier?

Mareen Esmeier: Ausschließen können wir eine Vermittlung an Leute, bei denen wir bemerken, das sie mit ihrem eigenen Leben nicht zurechtkommen. Wo wir also merken, dass jemand wohnungslos ist, eine Suchtkrankheit hat oder unter Betreuung steht. Da geht es um Menschen, die den Eindruck machen, dass sie wahrscheinlich für ihr eigenes Leben nicht wirklich die Verantwortung tragen können - und das damit dann auch nicht ausreichend für ein Tier könnten.

Was sind in der Realität die hauptsächlichen Gründe, einem Interessenten ein bestimmtes Tier zu verweigern?

Wenn man auf die Masse schaut, wo wir kein geeignetes Tier für jemanden haben, dann ist es leider so, dass die Vorstellung des Interessenten und die Bedingungen, die das Tier uns vorgibt im Hinblick auf eine Vermittlung, zu weit auseinander liegen. Ein Beispiel: wenn sich Interessenten in das Bild eines Hundes auf unserer Website verliebt haben, haben sie sich nicht immer den Text, den wir zum Bild dazustellen, ganz aufmerksam durchgelesen.

Wenn da "nicht zu kleineren Kindern", "braucht mehrere Besuche" und "zeigt sich Fremden gegenüber unfreundlich" steht, bedeutet das in der Regel, dass der Hund neuen Menschen gegenüber erst einmal aggressiv ist. Dann müssen mehrere Besuche erfolgen, damit das Tier Vertrauen fassen kann. Ein neuer Halter braucht genug Erfahrung mit dem Hund, um neue Situationen abschätzen zu können und auch um Fremde, denen das Tier begegnet, keiner Gefahr auszusetzen. Bei so einem Tier muss man sich darauf einrichten, dass das lebenslang kein Hund ist, den man auf eine Grillparty zu Fremden mitnimmt.

Wie läuft eine Vermittlung insgesamt ab? Stellen wir uns vor, eine Familie sucht einen Hund.

Bei uns läuft das so, dass die Interessenten sich melden, kurz etwas zu sich sagen und über die Vorstellungen, die sie von dem Tier haben. Dann überprüfen wir, ob wir ein passendes Tier dahaben. Da wir ein sehr großes Tierheim sind, wir haben sechs Hunde- und fünf Katzenhäuser, dauert es manchmal ein Weilchen, bis wir alle Bereiche durchkämmt haben.

Aber wenn sich die Leute nach einem bestimmten Tier erkundigen, wo unserer Meinung nach Vorstellungen und Realität zueinander passen, kann es auch ganz schnell gehen. Dann gibt es ein ausführliches Kennenlernen. Der Pfleger des Tieres führt ein ausführliches Beratungsgespräch mit den potenziellen neuen Haltern und man geht eine Runde spazieren. Dann kann man gerne kurz darauf noch einmal zum Spazieren gehen kommen. Und dann findet eine Art Anbahnung statt. Sprich, der Hund und die ganze Familie lernen sich kennen. Der Hund muss Vertrauen aufbauen, die Menschen müssen den Hund einschätzen lernen. Wenn beide Seiten ein gutes Gefühl haben – sich der Hund den Menschen gegenüber offen zeigt und diese souverän genug mit dem Hund wirken - vereinbaren wir eine Probewoche. Da darf der Hund für eine Woche bei den Menschen einziehen. Wenn das Zusammenleben dabei klappt, freuen wir uns über die geglückte Vermittlung. Klappt es nicht reibungslos, versuchen wir mithilfe von Hundetraining und Extra-Beratung, gegenzusteuern. Funktioniert das nicht, kommt der Hund zurück ins Tierheim.

In den allerwenigsten Fällen sind an dieser Stelle wir diejenigen, die sagen, dass das nicht funktioniert. Wir haben jedoch großes Verständnis dafür, wenn sich jemand doch nicht für den großen Schritt entscheidet, ein schwierigeres Tier aufzunehmen.

Wie reagieren Interessenten, die gern ein bestimmtes Tier haben wollen, wenn sie das nicht bekommen können?

Wenn sich jemand für ein bestimmtes Tier interessiert und wir – wir beschreiben das Tier und die Herausforderungen, die es mitbringt ja auch möglichst objektiv – dann sagen, aus welchen Gründen wir uns eine Vermittlung nicht vorstellen können in dem Fall (weil es beispielsweise Ressourcen-Aggressiv ist oder sehr territorial ist und keine Fremden im Haus duldet), haben die meisten Interessenten durchaus Verständnis. Viele Leute kommen aber zu uns und sagen, wenn ihr das größte Tierheim Europas seid, dann müsst ihr doch einen kleinen bis mittelgroßen Hund für mich dahaben. Die Realität ist aber, dass wir zwar aktuell 270 Hund bei uns haben. Von denen haben aber über 90 Prozent schwere Verhaltensauffälligkeiten und haben schon Bissvorfälle verursacht. Da haben – aus unterschiedlichsten Gründen – Menschen dafür gesorgt, dass sie nicht leicht an neue Menschen vermittelbar sind. Hinzu kommt: fast alle unsere Hunde wiegen weit über 25 Kilo, ziehen an der Leine und brauchen noch Feinschliff in der Erziehung. Auch sind sie fast nie unkompliziert mit neuen Menschen oder Hunden.

Da braucht man viele Termine zum Kennenlernen – und merkt, dass das Verständnis schnell aufhört und die Leute ungehalten werden. Dabei würden wir sehr gerne viel mehr Leuten einen passenden Hund vermitteln, weil wir sie durchaus für fähig halten, Hunde oder auch Katzen zu halten – aber leider haben wir eben nicht die passenden Tiere. Auf jeden netten, anfängertauglichen Hund kommen über hundert potenzielle Interessenten. Für die schwierigen Hunde gibt es ab und an Anfragen und nicht alle davon sind geeignet. Und für manche Hunde gibt es gar keine Interessenten.

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Warum sind so viele Tiere schwierig und brauchen erfahrene neue Herr- oder Frauchen?

Wir merken sowohl bei den Tieren, die auf behördlichem Weg zu uns kommen als auch bei den Hunden, die durch private Abgaben zu uns kommen, dass die Gründe oft Bissvorfälle und Schwierigkeiten mit Fremden sind. Oft kommen die Tiere also aus Gründen der Gefahrenabwehr zu uns. Die Anzahl solcher Tiere steigt von Jahr zu Jahr. Da sind Hunde, die nur mit Maulkorb geführt werden dürfen, die Familienmitglieder verletzt haben oder die sogar in der Wohnung nur noch mit Maulkorb gelebt haben. Das sind Tiere, bei denen viel schiefgelaufen ist. Die sitzen mehrere Wochen, Monate oder auch Jahre bei uns. Während nette kleinere Hunde im Schnitt nur eine Woche bleiben.

Im Moment haben wir einen Hund, der für Anfänger geeignet ist, der sich trotzdem nicht ganz leicht vermitteln lässt. Es handelt sich um eine riesige Deutsche Dogge. Der Hund ist halb blind, halb taub und braucht ein Spezialfutter. Und er muss er ebenerdig wohnen. Aber er ist einfach nur lieb. So entspricht er auch nicht der Vorstellung eines klassischen Anfängerhundes. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nur einen einzigen klassischen kleinen Anfängerhund. Der ist vermutlich in wenigen Tagen nicht mehr da, es gibt schon Interessenten.

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Wie kommen die meisten Tiere zu Ihnen – als Sicherstellung, Fund- oder Abgabetier?

Bis 2020 kam die Hälfte der Tiere als Abgabe zu uns. Die andere Hälfte kam als Fundtier, wurde sichergestellt oder stammte aus illegalem Welpenhandel. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten wir alle Tiere aufnehmen. Denn bis dahin hatten wir nur mitunter temporär die Situation zu voll zu sein. Doch wir waren der Aufgabe, die Hunde von Berlin zu versorgen und zu beherbergen, noch gewachsen.

Während der Corona-Pandemie hatten wir eine verstärkte Nachfrage nach Hunden und Katzen und waren so leer wie noch nie.

Problematisch ist, dass in der Corona-Zeit generell die Anzahl der Hunde gestiegen ist. Aber die Tierheimplätze sind nicht gestiegen. Wir sind unserer Aufgabe seit letztem Jahr im Sommer eigentlich nicht mehr gewachsen. Wir müssen viel mehr Hunde beherbergen, als wir es pflegerisch können. Wir müssen, weil es so viele sind, Anfragen teils Monate warten lassen. Die Veterinärämter weichen auf andere Tierheime aus. Doch diese – selbst die im ländlichen Raum – sind mittlerweile auch alle gefüllt.

Denken Sie, dass diese vor allem coronabedingten Zahlen mittelfristig auch wieder nach unten gehen?

Wir hoffen, dass der Effekt, der durch Corona entstanden ist, sich spätestens nach fünf Jahren wieder auf Vor-Pandemie-Niveau normalisiert. Es ist ja nicht unbedingt zu erwarten, dass noch einmal so viele Welpen und Junghunde in einer so großen Anzahl neu angeschafft werden. Aber wer weiß, wann die nächste Pandemie kommt oder wann andere Umstände, die wir nicht kontrollieren können, zu ähnlichen Nebeneffekten führen. Der Vollzug des Tierschutzes in Deutschland ist grundsätzlich bedroht, weil wir mit viel mehr notleidenden Tieren konfrontiert sind, als wir managen können. Aus unserer Sicht muss da gesetzlich dringend etwas passieren.

Auch wenn die Frage hart klingt: Warum schläfern sie Tiere nicht ein, bevor sie jahrelang ohne große Chancen auf Vermittlung im Tierheim sitzen?

Wir als Tierschutzverein haben uns insbesondere den Tieren verschrieben, die so schwer in ihrem Verhalten geschädigt sind, weil sie sehr unter Menschen gelitten haben. Gerade sie verdienen doch einen schönen Lebensabend. Denn die Tiere sind ja nicht von sich aus so geworden, sondern weil der Mensch sie dazu gemacht hat. Sie sind schließlich ein Produkt und ein Symptom dieser Gesellschaft. Auch wenn sie teilweise tatsächlich so schwierig sind, dass wir sie nicht alle jemals wieder mit gutem Gewissen aus dem Tierheim geben könnten.

Interessanterweise ist es auch so, dass gerade unsere Langsitzer, also die, die länger hier sind, am wenigsten leiden. Hunde, die aus privaten Haushalten neu zu uns kommen, stehen total unter Stress. Sie sind plötzlich aus ihrem Umfeld gerissen worden und finden sich in einem Zwinger wieder – statt mit Frauchen auf dem Sofa. Das sind die Hunde, die tatsächlich die Welt nicht mehr verstehen.

Die meisten Langsitzer erfahren im Tierheim das erste Mal, dass Menschen klar mit ihnen kommunizieren, dass da jemand ist, der Verständnis für Hundesprache hat. Sie kommen regelmäßig raus, haben feste Bezugspersonen. Diese Tiere einfach zu beseitigen ist einfach keine Option. Und manche von ihnen verlassen nach acht Jahren doch noch das Tierheim. Sie einzuschläfern wäre übrigens auch nach dem deutschen Tierschutzgesetz verboten, weil der Grund, dass der Aufenthalt im Tierheim Geld kostet, kein ausreichender ist.

Sie selbst verantworten ja weit über 200 Hunde als Tierheim-Leiterin. Kennen Sie die eigentlich alle?

Nein, ich kenne nicht alle Hunde. Aber mir sind fast alle Hunde bekannt, die länger als ein Jahr hier sind. Die kenne ich, auch ihre Vorgeschichten und warum sie nicht so schnell ein neues Zuhause finden. Aber die Hunde, die nur ganz kurz im Tierheim sind, lerne ich nicht alle kennen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

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