Jüdische Gemeinde in Berlin - "Wir werden jeden Montag hier sein - bis alle Geiseln frei sind"

Di 17.10.23 | 20:12 Uhr | Von Sebastian Schneider
Elieser Zavadsky, Mitglied der jüdischen Gemeinde Sukkat Shalom, bei einer Mahnwache zum Gedenken an die von der Hamas entführten israelischen Geiseln am 16.10.2023 in den Gemeinderäumen in Berlin-Charlottenburg (Quelle: rbb).
Video: rbb24 Abendschau | 17.10.2023 | Jonas Wintermantel | Bild: rbb

199 Geiseln sind in den Händen der Hamas-Terroristen. Das Schicksal der Entführten bewegt auch die jüdische Gemeinde in Berlin. Gemeinsam mit Angehörigen erheben die Gemeindemitglieder ihre Stimme - bei einer Mahnwache in der Synagoge.

Die große beschreibt ihre kleine Schwester so: Sie mag es zu tanzen und zu singen. Sie dekoriert ihr Zimmer gerne mit Aufklebern. Sie kauft der Familie gerne kleine Geschenke, um ihr zu zeigen, dass sie an sie denkt. 19 Jahre zwar, aber innerlich noch ein liebenswürdiges Kind.

Am Morgen des 7. Oktober wird Karina Ariev an der Grenze zu Gaza von Hamas-Terroristen verschleppt. Die Israelin leistete gerade ihren Militärdienst nahe eines Kibbuzes. Die Angreifer ermorden mehr als 100 Menschen.

"Hallo alle! Könnt Ihr mich gut hören", fragt Karinas Schwester Sasha Ariev knapp zehn Tage später in Jerusalem am Telefon. Rund 3.000 Kilometer entfernt ertönt ein zustimmendes Brummen aus vielen Kehlen. 100 Menschen sind in die Synagoge der Gemeinde Sukkat Shalom in Berlin-Charlottenburg gekommen, um der Geiseln der Hamas zu gedenken. Kaum ein Stuhl bleibt leer. Sasha Ariev ist über einen kleinen Lautsprecher zugeschaltet.

Die Israelin Sasha Ariev, Schwester der von der Hamas verschleppten Karina Ariev, spricht am 16.10.23 bei einem Video-Anruf an die jüdische Gemeinde Sukkat Shalom in Berlin-Charlottenburg über ihre entführte Schwester(Quelle: rbb / Schneider).
"Es ist wie ein Film, der jeden Tag wieder von vorne anfängt": Sasha Ariev, Schwester der entführten israelischen Soldatin Karina Ariev, im Telefongespräch am Montag. | Bild: rbb / Schneider

"Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen"

Es ist kein normaler Gottesdienst der liberalen Gemeinde, sondern ein Friedensgebet für die Ermordeten und Verletzten – und eine Mahnwache, um die Geiseln nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Mindestens 199 Menschen haben die Terroristen bei ihren Angriffen am vergangenen Samstag in ihre Gewalt gebracht [tagesschau.de].

Einmal noch hat Karina Arievs Familie sie seitdem gesehen: in einem Video, das die Hamas auf Telegram verbreitet hatte. Karina lag mit blutverschmiertem Gesicht, aber zumindest lebend, auf der Rückbank eines Lasters ihrer Entführer. Doch es gibt keinen Kontakt zu ihr. "Meine Eltern und ich sind innerlich leer. Es ist wie ein Vakuum, weil unser Herz fehlt. Wir sind nur Körper ohne eine Seele, weil sie sie genommen haben", erzählt Sasha Ariev.

Das Handy, von dem man sie bei dem Anruf in der Synagoge hören kann, hält ein stämmiger Mann mit hoher Stirn, er trägt Brille und einen moosgrünen Pullover. Elieser Zavadsky ist ein einfaches Mitglied der Gemeinde, seit den Angriffen der Terroristen auf sein Geburtsland hat der Ausnahmezustand auch von ihm Besitz ergriffen.

Der 58-Jährige hält Kontakt zu den israelischen Familien von Entführten. Am Sonntag waren es bereits zwölf. Bis Dienstag 20. Sie alle wünschten sich Öffentlichkeit, damit Druck auf die Hamas ausgeübt werde, die Geiseln freizulassen, erzählt Zavadsky. "Wir dürfen nicht einschlafen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, so wie wir uns an den Krieg in der Ukraine gewöhnt haben", sagt er.

Teilnehmer einer Mahnwache zur Solidarität mit israelischen Geiseln der Hamas am 16.10.23 in Berlin-Charlottenburg (Quelle: rbb / Schneider).
Der Gottesdienst in der Synagoge. | Bild: rbb / Schneider

"Wir trauern um ihre Weisheit, die die Welt hätte retten können"

Jüngere mit Trainingsjacken und Jeans, Ältere mit Strickpulundern und Karohosen: Sie alle beten und singen in einem Raum mit grauem Linoleumboden und beigefarben getünchten Betonsäulen. Der Toraschrein mit seinem prachtvollen weinroten Vorhang ist der Blickfang der ansonsten eher nüchternen Synagoge.

"Na, geht’s gut", fragt eine ältere Dame, als sie einen Mann mit kurzgeschorenem grauen Haar zur Begrüßung umarmt. "Wie es eben so geht", antwortet er. "Man muss das Beste draus machen." Ein trauriges Lächeln.

"Wir gedenken allen, die starben, weil Wahnsinn die Welt regiert, das Böse in der Welt. Wir trauern um ihre Güte und um ihre Weisheit, die die Welt hätte retten und so viele Wunden hätte heilen können", sagt der Rabbiner vorne am Altar. Fotos von der entführten Karina Ariev und ihrer Familie werden herumgereicht. Auf einem steht sie zwischen ihren Großeltern, auf einem anderen umarmt sie ihre Eltern und ihre Schwester Sasha. "Wir fühlen uns, als wäre alles vor ein paar Minuten passiert. Es ist wie ein Film, der jeden Tag wieder von vorne anfängt. Immer wenn wir aufwachen und bevor wir einschlafen", sagt Sasha Ariev.

Fotos der Israelin Karina Ariev und ihrer Familie, die bei einer Solidaritäts-Mahnwache für die israelischen Gelsen der Hamas am 16.10.23 in einerSynagoge in Berlin-Charlottenburg durchgereicht werden. Ariev war von den Hamas-Terroristen nach Gaza verschleppt worden (Quelle: rbb / Schneider).
Die entführte Karina Ariev (rechts) mit ihrer Familie. | Bild: rbb / Schneider

"Manche hoffen, dass ihre Familienangehörigen tot sind"

Ob irgendjemand noch Fragen habe, fragt Elieser Zavadsky die Menschen im Raum, als er das Handy in der Hand hält. Die Stille, die folgt, ist fast schmerzhaft. Viele schütteln wortlos ihre Köpfe. Aus verschiedenen Ecken des Raums hört man ein Schniefen. Sasha Ariev bedankt sich bei der Gemeinde, dann legt Zavadsky auf.

Es sei sehr belastend, mit den Familien der in Israel Entführten zu sprechen, erzählt er nach dem Gottesdienst. "Was kann ich einem Mann sagen, dessen Schwester mit ihren Kindern nach Gaza geschleppt wurde – und ein Kind wurde ermordet? Was kann ich sagen, wenn er mir erzählt, dass der schwangeren Nachbarin seiner Frau ihr Baby mit dem Messer herausgeschnitten wurde? Manchmal denke ich, ich lebe noch in einem Märchen. Das kann nicht wahr sein", sagt Zavadsky. Manche Familien hofften, ihre Angehörigen seien tot, damit sie nicht mehr leiden müssten. Was bleibe von einem Menschen, nachdem er so etwas erlebe?

Jeden Montag ein Gedenken an eine andere Geisel

Um den Horror zu verkraften nehme er sich in diesen Tagen bewusst immer wieder Pausen und beschäftige sich mit anderen Dingen, erzählt Elieser Zavadsky. Und er versuche, das Leben weiter zu lieben und "lebendig zu leben", wie er es nennt. Auch das eine Erfahrung der Traumata seiner Eltern und Schwiegereltern. Sie haben die Vernichtungslager der Nazis überlebt.

Zum Abschied des Gottesdienstes sagt der Rabbiner, so wie er die Sachlage sehe, werde man sich nächsten Montag hier wiedersehen. Er meint: Jeden Montag und jedes Mal eine andere Familie – bis die Geiseln frei sind. So wollen es auch andere Berliner Synagogen machen, jeweils an einem anderen Wochentag.

Als sich der große Raum langsam leert, bittet Elieser Zavadsky in ein Nebenzimmer. Er ruft Sasha Ariev noch einmal für ein kurzes Interview an. Man merkt, dass sie ihre Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt. In den vergangenen Tagen sprach sie mit Medien auf der ganzen Welt. Es ist das einzige, was sie für Karina tun kann. Sie gibt sich kämpferisch, doch gegen Ende des Gesprächs kommt die Trauer in ihrer Stimme stärker durch.

Sasha Ariev sagt über ihre kleine Schwester: "Sie hatte nicht einmal genug Zeit in ihrem Leben, um etwas Schlechtes zu tun. Niemand verdient so etwas."

Sendung: rbb24 Abendschau, 17.10.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schneider

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