Interview mit Antisemitismus-Experte - "Das antisemitische Grundrauschen nimmt zu"

Fr 01.12.23 | 07:54 Uhr
Archivbild: Studenten protestieren unter dem Motto "Decolonise Universities - Students United For A Free Palestine!" auf dem Steinplatz vor der UdK Berlin (Universität der Künste). (Quelle: dpa/Ender)
Bild: dpa/Ender

Seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel nehmen antisemitische Vorfälle in Deutschland zu. Auch an der Universität der Künste in Berlin wurden bei einer Demo einschlägige Symbole verwendet. Der Antisemitismus-Experte Lorenz Blumenthaler ordnet die aktuelle Situation ein.

rbb|24: Herr Blumenthaler, bei einer pro-palästinensischen Protestaktion in der Universität der Künste Mitte November hielten Demonstrant:innen mit blutroter Farbe beschmierte Handflächen in die Höhe [faz.net]. Offiziell, um damit auf die getöteten Zivilisten in Gaza aufmerksam zu machen. Kritiker der Aktion, beispielsweise andere Studierende an der UdK, wenden ein, dass diese Symbolik klar antisemitisch konnotiert ist [zeit.de]. Was ist der Hintergrund dieser Symbolik?

Lorenz Blumenthaler: Auch, wenn viele Studierende ganz andere Einordnungen vorgenommen haben, ist die Symbolik dahinter eindeutig. Denn das Ganze nimmt Bezug auf einen Vorfall im Oktober 2000, als in der Nähe von Ramallah zwei israelische Reservisten wegen Falschabbiegens verhaftet und festgesetzt wurden. Daraufhin stürmte ein Mob von Männern das Revier und lynchte die beiden Israelis. Einer der Mörder trat dann ans Fenster und zeigte der jubelnden Menschenmenge vor dem Gebäude seine blutverschmierten Hände. Jeder, der sich einmal mit der jüngeren Geschichte Israels oder des Nahost-Konflikts beschäftigt hat, wird dieses Symbol genauso verstehen und den Fall kennen.

Zur Person

Lorenz Blumenthaler, Sprecher der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin mit Schwerpunkt Antisemitismus und Rechtsextremismus. (Quelle: Presse/Amadeu-Antonio-Stiftung)
Presse/Amadeu-Antonio-Stiftung

Lorenz Blumenthaler arbeitet seit 2018 bei der Amadeu-Antonio-Stiftung als Sprecher für die Schwerpunkte Antisemitismus und Rechtsextremismus.

An der UdK wurde dadurch ziemlich eindeutig von einigen Studierenden die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden offen verherrlicht und in Bezug auf den jetzigen Konflikt und vor allem den Terror der Hamas vom 7. Oktober gesetzt.

Ob sich alle Studierenden, die sich an der Protestaktion beteiligt haben, dessen bewusst waren, ist fraglich. Aber es gab und gibt sicher Organisierende, die sich dieser Symbolik sehr, sehr bewusst waren und bewusst darauf zurückgriffen. Hier ist auch wirklich die Leitung gefragt, insbesondere durch die Hausordnung solche Zustände und Aktionen zu verhindern - allein schon, um die Sicherheit und das Wohlbefinden aller Studierenden sicherzustellen.

Protestierende riefen unter anderem auch "Condemn Genocide – Verurteilen Sie den Genozid". Die Begriffe "Genozid" und "Apartheid" werden von pro-palästinensischen Demonstrant:innen seit den Massakern der Hamas am 7. Oktober immer wieder öffentlich im Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt verwendet. Wie bewerten Sie das?

Hier findet eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren statt. Die missbräuchliche Verwendung des Apartheid-Begriffs beobachten wir schon sehr, sehr lange, insbesondere durch die BDS-Bewegung [Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen, Anm.d.Red.]. Hier werden immer Bilder des historischen Apartheid-Regimes in Südafrika erweckt, mit Israel in Verbindung gebracht, um damit die israelische Politik zu verurteilen - obwohl es ganz klar nicht vergleichbar ist.

Die Nutzung des Genozidsbegriffs ist noch viel, viel weniger angebracht. Was ein Genozid, ein Völkermord ist, regelt das Völkerrecht sehr eindeutig: das absichtliche und damit legitimierte, angekündigte Töten einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe, aufgrund dieser Merkmale. Das Motiv der Vernichtung und Auslöschung ist in dem Fall wirklich entscheidend.

Nochmal zurück zum Apartheid-Begriff. Warum kann man aus Ihrer Sicht nicht von diesem Vergleich sprechen?

Der Vergleich wird immer auf die Situation von Palästinenserinnen oder arabischen Israelis in Israel gemünzt, aber die sind nach dem derzeitig geltenden Recht keine "Bürger zweiter Klasse", es gibt keine Rassentrennung. Natürlich gibt es Checkpoints und Grenzen, die sie durchlaufen müssen und das geht auch häufig mit einer erniedrigenden Prozedur einher. Dass es aber diese Grenzen braucht und dass das Recht Israels, sich selbst zu verteidigen und sich zu schützen, heute so wichtig wie wahrscheinlich seit 30 Jahren nicht mehr ist - das hat der 7. Oktober gezeigt. Das Problem ist, dass mit diesem Bild des Apartheid-Staates Bilder hervorgerufen werden von ethnisch getrennten Bussen, öffentlichen Einrichtungen und solchen unterschiedlichen Standards.

Sie berichten seit Jahren über Formen des israelbezogenen Antisemitismus, zum Beispiel auch während der Corona-Krise. Was hat sich seit den Terrorangriffen des 7. Oktober geändert bzw. in welcher Form tritt dieser Antisemitismus in der Öffentlichkeit seitdem verstärkt auf?

Im Grunde sehen wir immer wieder dieselben reaktualisierten Bilder. Während der Corona-Pandemie hatten wir eine Aktualisierung von teilweise uralten antisemitischen Verschwörungserzählungen: ganz oft die Ritualmord-Legende, im "Qanon"-Verschwörungsglauben, der antisemitische Mythos der Brunnenvergiftung und die Gleichsetzungen von Jüdinnen und Juden und dem Staat Israel.

Was ich persönlich am schockierendsten finde, war auf sich progressiv verstehenden, linken Demos der Ausruf "Free Palestine from German Guilt". Im Grunde ist das ja eigentlich nichts anderes, als eine Schlussstrich-Formulierung von links - wo immer der Vorwurf mitschwingt, Deutschland behandle Israel aufgrund der Shoah anders als andere Staaten. Dass jetzt mittlerweile Linke eine historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel und jüdischem Leben leugnen und das quasi auch noch unmittelbar nach dem 7. Oktober - dem Tag, an dem seit dem Holocaust die meisten Juden an einem einzigen Tag ermordet wurden - gegen sie wenden, das fand ich schon noch mal besonders perfide.

Gibt es sonst noch Beispiele, die Sie nennen könnten?

Da müssen wir vielleicht noch ein bisschen in den digitalen Raum gehen, denn dort haben wir auch ein Riesenproblem mit Antisemitismus, insbesondere auf Plattformen wie Tiktok, wo auch viel mit Desinformationen gearbeitet wird. Welchen Grad an Absurdität oder auch an wirklich fanatischen Antisemitismus wir dort zum Teil erleben, dafür ist der ominöse Brief von Osama bin Laden, der auf einmal auf Tiktok viral ging, ein gutes Beispiel. Das war ein Brief, den Osama bin Laden 2002 verfasst hat, der gespickt ist mit queerfeindlichen und antisemitischen Inhalten und der dann auf einmal in 40 Videos ungefähr gleichzeitig auftauchte. Dass Content-Creator das heutzutage teilen, weil sie darin ihre Weltsicht gespiegelt sehen, das war schon nochmal eine sehr krasse und absurd anmutende Dynamik.

Antisemitismus ist die Brückenideologie schlechthin und vereint ganz unterschiedliche Milieus.

Lorenz Blumenthaler, Amadeu Antonio Stiftung

Diese Überschneidung von linkem, islamistischen und rechten Antisemitismus, wie sie in den vergangenen Wochen zu beobachten war - ist das etwas Neues?

Es ist auf jeden Fall eine neue Qualität, was Antisemitismus aus sich progressiv verstehenden Milieus angeht: dass diese auch auf der Straße so sehr ungeniert offen gemeinsame Sache gerade mit islamistisch motivierten Antisemiten machen. Die extreme Rechte tut sich bisher tatsächlich noch ein bisschen schwer, da auch noch mit reinzuspielen. Was nicht neu ist: Antisemitismus ist die Brückenideologie schlechthin und vereint ganz unterschiedliche Milieus.

Was unterscheidet in der gegenwärtigen Situation Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza von Antisemitismus?

Die Nachfrage nach legitimer Israel-Kritik ist in Deutschland sehr, sehr hoch - und alleine das ist doch schon ein Befund. Erstmal sollten wir uns fragen: Warum haben wir im Duden ein Wort für sogenannte Israelkritik, aber keine Frankreich-, China-, Schweiz- oder Ungarn-Kritik? Da würde mir auch einiges zu kritisieren einfallen. Scheinbar ist da aber das Bedürfnis zu kritisieren nicht so hoch, wie Kritik an Israel zu üben. Das lässt schon mal auf einen subtilen Doppelstandard hindeuten. Und ja, im Grunde ist es eigentlich gar nicht so schwierig.

Warum?

Es gibt sehr viel legitime Kritik an Israel und die wird auch immer wieder geäußert, da muss man nicht groß suchen, um zum Beispiel auch deutsche Regierungskritik an der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland zu finden oder am strukturellen Rassismus gegen arabische Israelis, Palästinenserinnen in den besetzten Gebieten, aber auch in Israel selbst. Oder an der Justizreform, die die israelische Demokratie bedroht - diese Kritik sollten wir auch üben.

Man muss bloß ein bisschen aufpassen, dass es da nicht zu Doppelstandards kommt, also, dass die israelische Politik anders bewertet oder unverhältnismäßiger kritisiert wird als die anderer demokratischer Staaten. Tatsächlich gibt die "International Holocaust Remembrance Alliance" ein paar sehr gute Beispiele, die zeigen, wie israelbezogener Antisemitismus sich äußert. Solange man das nicht reproduziert, steht man auch mit seiner "Israelkritik" auf sicheren Beinen.

Beobachten Sie, dass sich die Grenze zu Antisemitismus in der öffentlichen Debatte über den Krieg in Gaza seit den Terrorangriffen des 7. Oktober verschiebt?

Die Meldestelle Rias hat allein für den Monat Oktober die höchste Zahl an antisemitischen Vorfällen schlechthin gemeldet. Antisemitische Vorfälle nehmen gerade massiv zu. Am Anfang sind es immer Worte, aber am Ende reden wir auch tatsächlich von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Das antisemitische Grundrauschen nimmt zu.

Es war auch schon vor dem 7. Oktober nicht die Regel, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher fühlen. Der Alltag war auch schon vorher in Deutschland sehr antisemitisch geprägt. Was mich eher schockiert hat, waren tatsächlich erstmal die Wochen des Schweigens. Dass man nicht mal in der unmittelbaren Situation des krassen Angriffs und Terrors gegen die israelische Zivilbevölkerung erstmal Empathie zeigen und ganz kurz mal seinen antisemitischen Reflex unterdrücken kann.

Wir erleben einen Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung. Und die Konsequenz dessen ist, dass sich Jüdinnen und Juden noch unsicherer fühlen und bedroht werden.

Lorenz Blumenthaler, Amadeu Antonio Stiftung

Ich meine, das muss man sich jetzt mal vor Augen führen: Wir erleben einen Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung. Und die Konsequenz dessen ist, dass sich Jüdinnen und Juden noch unsicherer fühlen und bedroht werden. Das ist extrem beschämend, beängstigend und es ist auch ein bisschen die Frage, ob die Antisemitismus-Prävention in den letzten 10, 20 Jahren alles richtiggemacht hat - oder ob da antisemitische Milieus herangewachsen sind, die eigentlich nicht mehr erreichbar sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sebastian Schneider für rbb|24. Es handelt sich um eine redigierte, gekürzte Fassung.

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