Ketamin-unterstützte Psychotherapie - Halluzinieren unter ärztlicher Aufsicht

Fr 29.03.24 | 12:30 Uhr | Von Marvin Wenzel
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Originalbild: Eine Therapiesitzung gegen Depression bei der Ketamin unter Aufsicht verabreicht wird.(Quelle: rbb/Marvin Wenzel)
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Video: DER TAG in Berlin & Brandenburg | 05.04.2024 | Marvin Wenzel | Bild: rbb/Marvin Wenzel

Mit Ketamin verbinden die meisten ein Pferdebetäubungsmittel oder eine Partydroge. Das Psychedelikum wird aber auch bei der Behandlung von Depressionen eingesetzt – auch in Berlin. Bisher geht das allerdings nur "off label". Von Marvin Wenzel

Kurt Kuhlewind hat in seiner Kindheit viel Gewalt erlebt - bis heute leidet der 69-Jährige an Panikattacken und Depressionen. Er fühlt sich oft traurig und würde die Welt gern mit anderen Augen sehen. Eine jeweils dreijährige Verhaltenstherapie und Gestalttherapie verbesserten sein Wohlbefinden nur wenig.

Originalbild: Kurt Kuhlewind lässt sich 2024 in Berliner Ovid Klinik mit Ketamin gegen seine Depression behandeln.(Quelle: rbb/Marvin Wenzel)
Kurt Kuhlewind | Bild: rbb/Marvin Wenzel

Seit Januar reist der Musiklehrer im Ruhestand aus seiner Heimat Osnabrück regelmäßig nach Berlin, wo er eine Ketamin-unterstützte Psychotherapie macht. “Ich fühle mich häufig verloren“, sagt Kuhlewind. "Meine große Hoffnung ist, dass ich durch die Therapie das Gefühl bekomme, endlich anzukommen." Helfen sollen ihm dabei Anästhesistin Andrea Jungaberle und ihr psychotherapeutisches Team. Sie bieten in einer Tagesklinik in Friedrichshain seit 2021 Ketamin-unterstützte Psychotherapien an.

Veränderter Wachzustand

Den meisten Menschen ist Ketamin als Narkosemittel bekannt, das Schmerzen betäubt und zum Beispiel bei schweren Unfällen eingesetzt wird. Oftmals wird es auch als Partydroge konsumiert. In der Friedrichshainer Klinik wird Ketamin zur Behandlung von Depressionen eingesetzt: Kurt Kuhlewind bekommt es hier einmal in der Woche verabreicht.

Das Mittel löst nach wenigen Minuten einen veränderten Wachzustand bei den Patienten aus. “Ketamin kann einen bisher nicht dagewesenen Zugang zu Erlebnissen und verdrängten Erfahrungen herstellen”, sagt Jungaberle. Zum Beispiel zu Erinnerungen und Emotionen, die man in der Kindheit erlebt hat. Es gehe darum, sich selbst besser zu verstehen, sagt sie.

Zugang zu traumatischen Erlebnissen

Die einstündige Wirkung des Mittels ist in jeweils 30 Minuten Therapie vor und nach der Verabreichung eingebettet. Ein Psychotherapeut und eine Anästhesistin sind dabei, während dem Patienten das Medikament über eine Infusion zugeführt wird, er mit einer Schlafmaske im Gesicht auf einer Liege liegt und Entspannungsklänge hört.

Einige Patienten berichten von psychedelischen Reisen mit bewusstseinserweiternden Erlebnissen, bei denen sie Visionen haben und sich zum Beispiel aus der Vogelperspektive wie in einer Filmszene sehen können. Das kann ein beängstigendes Erlebnis sein - für Menschen, die zu Panikattacken neigen, wird Ketamin im Zusammenhang mit Psychotherapie deshalb nicht empfohlen.

Kuhlewind hat solche Reisen bisher nicht erlebt. Er sagt, dass er einen "Zugang zu traumatischen Erfahrungen" gehabt habe, der vorher nicht da gewesen sei. "Und in der letzten Sitzung habe ich die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, anzukommen", sagt er und lächelt dabei leicht. "Ich habe ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme gespürt."

Andrea Jungaberle.(Quelle:rbb/Marvin Wenzel)Andrea Jungaberle

Therapie mit Gesprächen und Ketamin-Anwendung

Vor allem bei Menschen mit schweren Depressionen und Angststörungen sei die Therapie vielversprechend, sagt Jungaberle – sogar bei Menschen mit einer jahrzehntelangen Krankheitsgeschichte. Nach ihrer Aussage gingen bei mehr als der Hälfte ihrer Patienten die Krankheitszeichen teilweise oder komplett zurück. Auch mehrere wissenschaftliche Studien ergaben, dass Ketamin beim Einsatz gegen Depressionen wirksam sein kann.

Andrea Jungaberles Team hat in den vergangenen drei Jahren mehr als 400 Menschen ambulant mit Ketamin-unterstützen Therapien behandelt. Die Ketamin-Therapie umfasst 18 Stunden Therapie, kombiniert mit sechs Stunden Ketamin-Wirkdauer, und erstreckt sich über einen Zeitraum von sechs Wochen. In anderen Kliniken unterscheidet sich die Therapie leicht in Dauer und Anwendung – das Prinzip ist aber das Gleiche.

Bisher nur "Off-Label"-Einsatz

Allerdings ist Ketamin bisher nach dem Arzneimittelgesetz nicht für den Einsatz bei Psychotherapien zugelassen, deshalb darf es nur "off label" verabreicht werden.

Die Verabreichung ist trotzdem legal, wenn einige Bedingungen erfüllt sind: Der Patient muss über die "Off-Label"-Behandlung mündlich und schriftlich aufgeklärt worden sein und eine Einverständniserklärung unterschrieben haben. Zudem muss seine Krankengeschichte belegen, dass andere Therapieformen nicht geholfen haben, es sich also um eine so genannte "therapieresistente" Krankheit handel.

Beim Off-Label-Gebrauch entfällt die Haftung durch den Hersteller des Medikaments für eventuelle Schäden und wird auf den Arzt übertragen. Die Tagesklinik von Andrea Jungaberle hat deshalb eine spezialisierte Arzthaftpflichtversicherung abgeschlossen.

Die Behandlung zahlt Kuhlewind selbst, weil die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten nicht übernehmen. Kostenpunkt für ihn: 6.000 Euro.

Einsatz in der Psychotherapie wird derzeit erforscht

Die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) rät derzeit noch vom Einsatz von Ketamin in der Psychotherapie ab – das tue man grundsätzlich, wenn ein Mittel für diesen Zweck nicht zugelassen ist, sagt DGPPN-Vorstandsmitglied Andreas Reif. Die Gesellschaft erkenne allerdings den medizinischen Nutzen an, den Ketamin bei der Behandlung von Depressionen haben könne, und beobachte mit Interesse die internationale Studienlage.

Psychedelika als Hilfsmittel in der Psychotherapie werden aktuell weltweit in Zulassungsstudien erforscht. Auch Andrea Jungaberle hat an einer solchen Studie als durchführende Studienärztin teilgenommen. Synthetisches Psilocybin und MDMA, die bisher vor allem als bewusstseinserweiternde und euphorisierende Drogen bekannt sind, sind dabei die erfolgversprechendsten Kandidaten. Beide Stoffe dürfen seit 2023 in Australien in der Psychotherapie angewendet werden. "Diese Entwicklung wird in Deutschland noch einige Jahre auf sich warten lassen", sagt Jungaberle. Bisher sei das Interesse in der Forschung und von Pharmaunternehmen noch vergleichsweise gering, das Medikament im psychotherapeutischen Bereich verstärkt zu untersuchen.

Nach fünf Ketamin-Verabreichungen neigt sich die Therapie von Kurt Kuhlewind ihrem Ende zu. Er wertet sie als Erfolg: "Ich fühle mich etwas besser als vor der Therapie. Das ist im Moment das Richtige für mich." Nun hofft er, dass die Ketamin-Therapie auch langfristig wirkt und er neue Lebensfreude finden kann.

Sendung: DER TAG in Berlin & Brandenburg, 05.04.2024, 18:00 Uhr

Beitrag von Marvin Wenzel

9 Kommentare

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  1. 9.

    Also: der Patient leidet u.a. an Panikattacken. Weiter unten im Text wird allerdings darauf verwiesen, dass Ketamin bei solchen Patienten nicht geeignet sei.
    Ok, bei dem Honorar kann man ja mal über so eine Kleinigkeit hinwegsehen.....

  2. 8.

    Ich finde es auch gut Menschen zu helfen. Aber dann auch Zielgerichtet. Es gilt nämlich zuerst die Ursachen zu bekämpfen und deren Wirkung. Andernfalls ist das ein Fass ohne Boden. Das gilt auch für Cannabis und Alkohol. Wenn ich höre das man sich erstmal einen durch ziehen muss um wieder runter zukommen, weil die Prüfung so anstrengend war, dann sind das "first world problems". Da gibt es genügend Menschen die nichts zu Essen haben und sauberes Trinkwasser benötigen. Aber wir hier diskutieren darüber welche Drogen gut für was sind. Daher kann ich einige schon verstehen, wenn davon ausgegangen wird, was legalisieren wir den als nächstes. Denn wie treffend festgestellt, für irgendjemand ist es gut. Was aber nicht heißt, das es für Allgemeinheit gut ist. Aber im Zeitalter der persönlichen Interessen fällt das ja gerne hinten runter.

  3. 7.

    Das ist es übrigens auch, wenn sie Hustensaft verschrieben bekommen. Die Droge ist per Definition der wirksame Bestandteil des Medikaments (Drogerie...).
    Sollte ihr Kommentar darüber hinaus etwas zum komplexen Thema des Für und Wider berauschender Substanzen beitragen, ist er wohl etwas zu unkonkret.
    Schade.
    Ich finde es gut, Menschen zu helfen, ohne Dogmen bezüglich gesellschaftlich verfestigter Normen unhinterfragt zu reproduzieren, sondern offen zu sein, Neues zu erforschen.
    Und es ist ja auch wissenschaftlich gut begleitet.

  4. 6.

    Nur jemand, der selbst leidet oder gelitten hat, kann verstehen, warum manche Menschen diesen Schritt gehen. Wenn nichts anderes hilft, ist es nicht verwerflich, dass in Betracht zu ziehen.

    Diese Behandlung wird nur durchgeführt, wenn die Untersuchungen im Vorfeld keine Kontra-Indikation ergeben.
    Das Medikament wird unter strenger Aufsicht gegeben und in Kombination mit Psychotherapie.

    Es ist ein Schritt in Richtung Heilung. Und danach ist das Leben nicht plötzlich "heiter Sonnenschein"

  5. 5.

    Drogenkonsum auf Rezept, mehr ist das nicht. Es werden auch Opiatabhängige substituiert, es bleibt aber Drogenkonsum auf Rezept.

  6. 4.

    Der Patient fühle sich nach der Behandlung " etwas besser ".
    Naja, für 6000 € sollte man eigentlich mehr erwarten.
    Ansonsten stehe ich derartigen Therapien sehr kritisch gegenüber. Hier wird m.E. aus dem Leid von Menschen Kapital " geschlagen"

  7. 3.

    Ketamin wurde nicht legalisiert.
    Also vielleicht geht's bei Ihrem nächsten Kommentar auch einen Gang gelassener.
    Tragen Sie Ihre Bedenken doch sachlich vor.

  8. 2.

    Ihr Kommentar ist respektlos schwerkranken Menschen gegenüber. Es ist doch wunderbar, wenn austherapierte Menschen Medikamente zur Besserung erhalten. Und wie beschrieben, wird es bereits als Medikament genutzt.

  9. 1.

    Juhu, noch mehr Drogen!
    Wie fragte schon der Postillion? „Welche Drogen werden als Nächstes legalisiert?“

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