rbb|24-Adventskalender | Hochgestochen, tiefgestapelt - 23. Tür: Stadtrundgang mit Vokabeltraining
Diesmal: besonders östlich. Die Eisenhütte und ihre Stadt ganz im Osten bekommen Besuch aus dem Westen. Sie sprechen diesmal nicht über das Früher. Außerdem bekommt der Besuch ein paar Lektüretipps.
Weihnachtskalender sind mit einer Art Schuld verbunden: Dafür, dass man an diesem Countdown zur Heiligen Nacht teilnehmen darf, muss man immer schön artig sein. Oder: Man bekommt Süßigkeiten, aber täglich nur eine, nicht schummeln! Es sind immer Versprechen. Man muss etwas dafür tun. Hier muss man das nicht. Hier versprechen wir etwas. Dies ist eine schuldfreie Kalendertür.
Eine Aufgabe beim Stadtrundgang
Die "23" ist ein Ausflug in den tiefen Brandenburger Osten. Nach Eisenhüttenstadt, ein kleiner Stadtgang - mit einer Aufgabe.
Eisenhüttenstadt hatte seine große Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Nachbarschaft zu Fürstenberg an der Oder sollte ein neues Stahlwerk entstehen. Das Werk brauchte Arbeiterinnen und Arbeiter, und die bekamen dafür eine eigene neue Stadt. Eisenhüttenstadt wurde gebaut.
Das Werk wuchs und die Stadt wuchs auch - und zwar von wenigen Tausend in den 50ern auf 50.000 Einwohner Ende der 80er. Nach der Wende schrumpelte die Stadt, hat aber nun recht stabile 24.000 Hüttenstädter. Allerdings hat diese Statistik einen Makel.
Deutlich mehr Abschiede als Begrüßungen
Das Durchschnittsalter in Eisenhüttenstadt beträgt derzeit 52 Jahre, in Deutschland sind es 45 Jahre. Der Altersindex der alternden Bundesrepublik, also eine statistische Zahl, die - grob gesagt - gut ist, wenn sie um die 100 und damit einigermaßen niedrig ist, beträgt 150. In Eisenhüttenstadt beträgt sie 320 (Berlin: 135). War die Stadt früher sehr jung, ist sie jetzt alt, sehr alt.
Die Alterszahlen deuten an, was dazwischen passiert ist - also in den Jahren von 1989 bis 2023. 35 Jahre verabschiedeten sich die Generationen aus Eisenhüttenstadt, mussten woanders lernen und arbeiten, gründeten Familien und kommen wieder - aber nur auf Besuch und nur manchmal. Jetzt, also Weihnachten, ist dieses "Manchmal". Sie kommen nach Hause zu denen, die noch da sind, und verabreden sich, vielleicht in Wohnungen, oder durch Zufall beim Einkauf am Citycenter und wenn sie noch nicht ganz so alt sind irgendwo, vielleicht am Denver-Brunnen. Sie quatschen über Hüttenstadt und warum sie nicht mehr hier sind.
Ein Stahlpreis für die Aufmerksamen
An Autoren, die festhalten und begleiten, was hier passiert ist und die solche Geschichten schreiben und aufschreiben, wird alljährlich der Stahlpreis in Eisenhüttenstadt vergeben, der Literaturpreis einer vom Stahlwerk mitfinanzierte Stiftung. In diesem Jahr ging er an den Berliner Autoren Jochen Schmidt. Vor Schmidt waren es unter anderem Jenny Erpenbeck, Kerstin Hensel, Clemens Meyer und Kathrin Schmidt.
Jochen Schmidt kennt natürlich in Eisenhüttenstadt das Museum im alten Haus der Kinderkrippe, er kennt das Friedrich-Wolf-Theater und er weiß, wo das alte Hotel Lunik steht. Aber er braucht eben das alles nicht, auch nicht das Walter-Womacka-Bild am Linden-Zentrum, um zu beschreiben, was Eisenhüttenstadt hinter sich hat und dabei ist, hinter sich zu lassen.
Den Literaturpreis haben er und die anderen auch darum bekommen, weil sie es schaffen, den Osten zu beschreiben, ohne mit Stichwörtern wie "Wohnkomplex", "sozialistische Wohnstadt" und "Walter Ulbricht" zu werfen. Das war auch hier die Aufgabe. Es geht doch.
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