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Audio: rbb24 Kulturradio | 09.01.2024 | A. v. Lucke | Quelle: dpa/Riedl/AP/Schreiber/dpa/Pleul

Protestforscher zu Radikalisierung

"Es besteht die Gefahr, dass der Staat immer mehr an Autorität verliert"

Die Bauern wollen den Autoverkehr lahmlegen, die Gewerkschaft der Lokführer am Mittwoch den Zugverkehr. Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke sieht eine Radikalisierung der Protestkultur - und das nicht erst seit heute.

rbb|24: Herr von Lucke, Bahnstreiks hat es früher schon gegeben, Bauern-Demos auch. Sind die Proteste heute radikaler als früher? Oder erscheint uns das nur so, weil sich das so häuft in dieser Woche?

Albrecht von Lucke: Es gibt in der Tat eine Häufung, also dass immer schnellere, getaktete Auftreten. Es ist kein Zufall, dass die Bauern, die ja gerade schon Erfolge erzielt haben – der Großteil der Maßnahmen ist zurückgenommen worden – jetzt noch einmal eine ausgesprochene Verschärfung ankündigen, um auch den Rest der beschlossenen Maßnahmen zu beseitigen.

Und das vielleicht noch Dramatischere dabei, es gibt immer wieder Auswüchse bei diesen Demonstrationen. Zum Beispiel bei der Blockade der Fähre, die Klima- und Wirtschaftsminister Habeck erlebte, wo er sogar wieder ablegen musste. Oder aber auch die massiven Beleidigungen, die Bundeskanzler Scholz und der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Haseloff, gerade in der Flut erlebten. Das Neue daran, es sind viele Gruppierungen, die auf diese Proteste aufsatteln und sie versuchen zu instrumentalisieren - bis hin zu rechtsradikalen Akteuren.

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Es gibt brutale Symbole, zum Beispiel der Galgen bei einem Bauernprotest, an dem eine Ampel aufgehängt ist. Können Sie erklären oder nachvollziehen, wie es zu dieser Brutalisierung der Protestformen kommt?

Man kann das sogar sehr genau taxieren und einordnen. Das erste Mal, dass Galgen - und nicht ganz selten - mitgeführt wurden und durchaus sogar noch deutlicher mit Personen konnotiert waren, das war im Jahr 2015. Ich glaube, der große Durchbruch der Radikalisierung der Proteste ist mit diesem Jahr zu verbinden. Die Fluchtbewegung nach Deutschland hat eine enorme Radikalisierung herbeigeführt. Das lag damals schon auch an der Zerstrittenheit innerhalb der Union.

Der große Streit zwischen Seehofer und Merkel, die Tatsache, dass sich Horst Seehofer bei aller Kritik, die er hätte üben können, nicht geschlossen an die Seite von Angela Merkel gestellt hat, hat auch dem Protest zugespielt. Sodass Alexander Gauland damals sogar sagte, die Flucht ist ein Wunder, ist ein Geschenk Gottes gewissermaßen für die AfD, die ja dann zur Partei der Wutbürger wurde. Es ist kein Zufall, dass wir heute ein Stück weit in den Klientelprotesten auf der Straße und in den nicht fahrenden Zügen und an anderer Stelle die Zerrissenheit auch der jetzigen zerstrittenen Regierung widergespiegelt sehen.

Zur Person

Auf der anderen Seite gibt es die Protestformen von Klimaaktivisten, die Straßen blockieren oder gegen Kunstwerke vorgehen. Ist das nicht eine ähnliche Radikalisierung?

Ja, das sehe ich durchaus so bei aller Sympathie für das Anliegen. Das Anliegen muss man deutlich unterscheiden. Das Anliegen, nämlich die Bewahrung der Schöpfung, ein gesamtgesellschaftliches Interesse, ist ein anderes als oftmals das Klientelinteresse beispielsweise einer Bauernschaft, die durchaus in den letzten Jahren gut gefahren ist, gute Gewinne gemacht hat.

Das Grundproblem auch bei den Klimaaktivisten ist, dass sie ein Stück weit die staatlichen Institutionen infrage stellen, dass sie auch gegen einen erheblichen Teil der Bevölkerung vorgehen. Und es besteht die Gefahr, in den Bauernprotesten zeigt es sich, dass der Staat immer mehr an Autorität verliert, dass die Anerkennung von Institution, aber auch von Recht und Ordnung immer mehr verloren geht und das vor diesem Hintergrund dann irgendwann die Demokratie nicht nur in Mitleidenschaft gerät, sondern regelrecht waidwund geschossen wird.

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Sehen Sie einen Weg zurück von solchen radikalisierten Protestformen zu mehr Dialog?

Ja, unbedingt, denn ich glaube das, was eigentlich auch gerade jetzt die Bauernschaft gefragt wäre zu haben, ist größere Kompromissbereitschaft. Wenn Herr Rukwied an der Spitze des Bauernverbandes sagt, wir sind zu keinen Kompromissen bereit, wir wollen die absolute Rücknahme, dann ist das verheerend. Wir müssen doch in einer solchen Krisenzeit, in der wir uns gegenwärtig befinden, an alle gesellschaftlichen Teilnehmer appellieren, dass sie bereit sind, gewisse Einschränkungen in kauf zu nehmen.

Denn die ganz großen Aufgaben, die im nächsten Jahr auf uns zukommen - möglicherweise eine weit intensivere Unterstützung der Ukraine, wieder große Schäden, Hitze - das sind alles Dimensionen, die wir noch gar nicht im Blick haben. Und die verlangen von der Gesellschaft insgesamt solidarischer zu sein. Jede Teilgruppe muss kompromissbereit sein, Kompromissbereitschaft ist in jeder Hinsicht gefordert. Dann könnte es wieder vom Protest hin auch zum Dialog zurückgehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Frank Meyer für rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte Fassung.

 

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