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Quelle: Imago/Panthermedia

Anlaufstelle für Gewalt im Sport

"Betroffene melden sich oft erst, wenn es vorbei ist"

Seit rund sieben Monaten nimmt sich die unabhängige Ansprechstelle "Safe Sport" Fällen von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt im Breitensport an. 90 ganz unterschiedliche Anfragen hat sie schon bekommen. Von Lynn Kraemer

Stellen Sie sich vor, Sie sind beim Training im Sportverein und bekommen eine dieser drei Situationen mit.

- Der Trainer macht sich vor der gesamten Gruppe über den Fehler einer Mitspielerin lustig.
- Ein Mitspieler ist unkonzentriert und wird mit einer Rolle Tape abgeworfen.
- Auf dem Weg zur Umkleide schiebt sich jemand im engen Gang vorbei und fährt mit der Hand dabei über Ihren Hintern.

Würden Sie einen der Vorfälle melden? Machen das Alter und Verhältnis der Personen zueinander einen Unterschied? Je nachdem hinterlassen alle drei Situationen vermutlich mindestens ein Störgefühl. Das vielbeschworene Fair Play sieht anders aus. Wüssten Sie, an wen Sie sich in dieser Situation wenden?

Ansprechstellen

Mit dem Verein "Safe Sport" wurde im vergangenen Jahr eine bundesweite und unabhängige Anlaufstelle geschaffen. Geschäftsführerin und Psychologin Ina Lambert und zwei weitere Mitarbeitende nehmen sich Fällen an, die Betroffene, aber auch Beobachtende an sie herantragen. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie die 16 Bundesländer finanzieren die drei Stellen. Der Fokus liegt auf dem Breitensport, es werden aber auch Fälle aus dem Spitzensport beraten. Für Betroffene von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt im Spitzensport gibt es neben "Safe Sport" seit 2022 die Initiative "Anlauf gegen Gewalt" vom Verein Athleten Deutschland.

Zwei Erhebungen machen Problem deutlich

Anlass waren nicht nur mehrere prominente Fälle, wie der von Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz, die mit ihrer Schwester von unmenschlichem Umgang und Machtmissbrauch durch ihre Trainerin am Bundesstützpunkt in Chemnitz berichtete [spiegel.de], sondern auch eine erschreckende Zahlenbasis.

In Deutschland gab es zuletzt zwei große Studien, um Gewalt im Sport auch statistisch zu erfassen. Die Deutsche Sporthochschule Köln und das Universitätsklinikum Ulm befragten im Rahmen des Forschungsprojekts "Safe Sport" 1.799 Kaderathletinnen und -athleten zum Thema sexualisierte Gewalt [fis.dshs-koeln.de]. Unter zehn Teilnehmenden waren etwa vier, die von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichteten.

In der 2022 veröffentlichten Anschluss-Studie "Sicher im Sport" wurden der Breitensport berücksichtigt und die Formen der Gewalt erweitert [lsb.nrw.de]. Dabei wurde zwischen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung unterschieden. 4.367 Sportlerinnen und Sportler beteiligten sich. 70 Prozent von ihnen gaben an, schon mal eine Form von Gewalt oder Grenzüberschreitung im Sport erlebt zu haben.

Mädchen und Frauen waren deutlich häufiger betroffen als Jungen und Männer. Befragte unter 30 Jahren berichteten ebenfalls von mehr Grenzüberschreitungen.

Beratung durch "Safe Sport e.V."

Die Fälle, die Psychologin Ina Lambert und ihr Team in den vergangenen sieben Monaten bereits behandelt haben, decken die gesamte Bandbreite ab. Oft überschneiden sich die Gewaltformen. So wendete sich eine Betroffene an die unabhängige Ansprechstelle und berichtete von einer Beziehung, in die sie hineinmanipuliert wurde. Hier trafen psychische und sexualisierte Gewalt zu.

Es ist eine von rund 90 Anfragen, die bisher an "Safe Sport” herangetragen wurden. Tendenz steigend. Im letzten Jahr waren 43 Prozent der Personen, die sich meldeten, Betroffene. Die Mehrzahl waren Beobachtende wie beispielsweise Eltern oder andere Mitarbeitende aus den Vereinen.

"Die Beratung läuft über eine telefonische Hotline, bei der die Menschen in den Sprechzeiten einfach anrufen können. Aber auch über unsere Onlineberatungsplattform. Da gibt es die Möglichkeit, einen Chat oder Videotermin zu vereinbaren, weil wir bundesweit aktiv sind", sagt Ina Lambert.

Wer sich meldet, kann anonym bleiben. Aber auch persönliche Termine in der Anlaufstelle in Berlin sind möglich. Neben Lambert, die einen beruflichen Hintergrund in der Jugendhilfe hat, arbeitet eine Juristin für "Safe Sport", die beispielsweise Einschätzungen geben kann, ob die geschilderten Situationen über oder unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen.

"Menschen, die sich hier melden, egal ob Betroffene oder Beobachter*innen, sind oft eigentlich noch unsicher, ob das, was sie mitbekommen, wirklich Gewalt ist", sagt Lambert. Doch: "Es braucht unserer Erfahrung nach schon ganz viel, damit sich Menschen überhaupt nach außen wenden."

Oft seien die beschriebenen Situationen Teil eines Verhaltensmusters. "Wenn man dann ein Feedback gibt und die Situationen genau benennt, sind die Leute oft erstmal geschockt. Andererseits aber auch entlastet, weil ihr Gefühl richtig war", sagt Lambert.

Die Ansprechstelle kann in den einzelnen Fällen bis zu zehn psychologische Beratungseinheiten anbieten. Das ersetzt laut Lambert keine Psychotherapie, kann aber entlastend und stabilisierend wirken und den Zeitraum bis zu einem Therapieplatz überbrücken.

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Fälle kommen oft nicht an die Öffentlichkeit

30 Prozent der Fälle, die der Verein behandelt, sind aktuell. 57 Prozent sind Fälle, die innerhalb der vergangenen drei Jahre aufgetreten sind. Die anderen liegen noch weiter zurück. "Betroffene melden sich oft erst, wenn es vorbei ist, weil sie sich dann erst in der Lage fühlen", so Ina Lambert.

Die Beobachtung deckt sich mit Ergebnissen der Breitensport-Studie "Sicher im Sport". In vielen Fällen behielten die Betroffenen das Erlebte für sich. Während Betroffene von psychischer Gewalt in 25 Prozent der Fälle mit niemandem redeten, fiel die Dunkelziffer bei Vernachlässigung (36 Prozent), körperlicher Gewalt (43 Prozent) sowie sexualisierter Gewalt ohne (36 Prozent) und Körperkontakt (42 Prozent) höher aus. Kontakt mit Ansprechpersonen aus dem Verein oder Verband wurde nur in wenigen Fällen gesucht.

Dabei muss zwar berücksichtigt werden, dass einzelne blöde Bemerkungen oder anzügliche Blicke von den Betroffenen oftmals einfach runtergeschluckt oder ignoriert werden, aber auch zu einem Klima beitragen, in dem sich die Verursachenden sicher fühlen. Für Lambert gilt bei solchen Situationen: "Grenzüberschreitungen können aus Versehen passieren. Wir sind alle Menschen. Aber dann müssen wir drüber sprechen", denn: "Wenn Spieler*innen mitbekommen, dass niemand etwas dagegen sagt, dann trauen sie sich auch weniger, etwas dagegen zu sagen."

Im besten Falle entstehe eine Kultur des Hinsehens, in der alle für Grenzüberschreitungen sensibilisiert seien. "Leider braucht es oft einen Fall, damit sich dann darum gekümmert wird. Es wäre besser zu sagen, dass man präventiv voranschreitet, damit es nicht passiert", sagt die Geschäftsführerin von "Safe Sport".

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Aufbau eines unabhängigen Zentrums

Einige der Anfragen an die Ansprechstelle drehen sich auch um das Thema Prävention oder die Moderation von Gesprächen zwischen zwei Parteien. Die muss "Safe Sport" momentan allerdings ablehnen, weil es die Kapazitäten des kleinen Teams sprengen würde und bis dato auch nicht im Konzept verankert sei, sagt Lambert.

Schon bald könnte sich das ändern. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel-Bundesregierung wird der "Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport" unterstützt. 2025 soll bereits ein Teil stehen. 2026 soll das Zentrum komplett seine Arbeit verrichten können. "

Dieses Zentrum soll vom Sport unabhängig sein und die Bereiche Prävention, Intervention und Aufarbeitung abdecken. Es soll eine unabhängige Untersuchungsinstanz und eine unabhängige Sanktionierungsinstanz geben", erklärt Ina Lambert. Ob und in welcher Form der Verein später im Zentrum aufgeht und welche Stadt zum Standort wird, ist noch offen [sportschau.de].

Mit der Etablierung des Zentrums könnten vor allem kleinere Vereine und Verbände entlastet werden, die nicht die Mittel haben, um hauptamtliche Ansprechpersonen mit Fachexpertise zu benennen. Schon bestehende Strukturen im Sport soll es aber nicht ersetzen: "Es braucht beides", sagt Ina Lambert. "Der Sport muss diese Angebote vorhalten und das Zentrum sollte ein zusätzliches Angebot vorhalten. Es sollte eine Vernetzung geben und für mich steht das in keinem Widerspruch."

Denn nur wenn Betroffene flächendeckend das Gefühl haben, dass sie sich an jemanden wenden können und wissen, dass sie ernst genommen werden, kann der deutsche Sport sicherer werden.

Sendung: rbb24, 03.03.2024, 21:45 Uhr

Beitrag von Lynn Kraemer

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