Theaterkritik | "Selfie" im Grips Podewil Berlin - Ein sexueller Übergriff im Freundeskreis und seine Folgen

Fr 21.01.22 | 11:40 Uhr | Von Ute Büsing
(V.l.) Yana Ermilova als Lily, Lisa Klabunde als Emma und Marius Lamprecht als Chris während der Fotoprobe für das Stück "Selfie" im Grips Theater (Bild: imago images/Martin Müller)
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Audio: Inforadio | 21.01.2022 | Ute Büsing | Bild: imago images/Martin Müller Download (mp3, 4 MB)

Es gibt im Theaterstück "Selfie" keine bösen Absichten und keine ausgemachten Schurken - und trotzdem einen sexuellen Übergriff. Am Donnerstag war Premiere im Berliner Grips Podewil. Ute Büsing hat einen überzeugenden Abend gesehen.

 

Drei Jugendliche in türkisfarbenen Schlafklamotten krabbeln auf eine mit Kuscheltieren übersäte Steppdecke. Es sind die 16-jährigen Busenfreundinnen Emma und Lily und Lilys 17-jähriger Bruder Chris, den Emma schon ebenso lange unausgesprochen mag wie er sie.

Nur gestanden haben sie sich das noch nicht. Nach und nach erzählt das Trio seine gemeinsame Geschichte, die am Ende unweigerlich zu einer Trennung führen wird. Denn im Stück der kanadischen Autorin Christine Quintana für Menschen ab 14 geht es um einen sexuellen Übergriff im engsten Freundeskreis.

Behutsames Ringen um Wahrheit

So leise habe ich das sonst lautstark applaudierende und kommentierende Publikum des Berliner Grips noch nie erlebt. Gebannt verfolgt auch eine Schulklasse, wie hier in der Regie von Maria Lilith Umbach (zuvor verantwortlich für die preisgekrönten Inszenierungen "Nasser#7Leben" und "Das Nacktschnecken-Game") behutsam um Wahrheit gerungen wird: Wo beginnt Zustimmung? Ist kein "Nein" zum Geschlechtsverkehr automatisch ein "Ja"? Kann ein allseits beliebter Schulkamerad auch "Täter" sein?

Und kann, darf, soll ein "Opfer" den Übergriff melden und verfolgen lassen wie in der deutschen Strafrechtsreform von 2016 vorgesehen? Für die deutsche Bearbeitung wurde die Fachberatung von Wildwasser und Lara eingeholt, zwei Anlaufstellen für sexuelle Übergriffe.

Was "sexueller Konsens" ist und was nicht, wird in 90 Minuten im durchgängig türkisen Setting (Lea Kissing) mit Videoprojektionen (Alexander Merbeth) anschaulich aufgerollt, eingebettet in die Rahmenhandlung einer knalligen Wiedersehens- und Willkommensparty nach den Sommerferien.

Die immer eine Spur zu überdrehte Lily (Yana Ermilova, auch mit Songs am Start), von ihrem Bruder nur "das Grauen" genannt, hat ihn dazu überredet und gleich ungefragt die halbe Instagram-Gemeinde dazu eingeladen. "Cool" und "krass" und mit viel Alk auf ex geht es dabei zu.

Berührende Momente

Auch die scheue Emma (Lisa Klabunde), deren Paris-Ferienaufenthalt nicht so toll war, wie sie zunächst erzählt, dröhnt sich zu und lässt sich auch gerne auf die Annäherung des umschwärmten Chris ein. Was einem Kuss und Händchenhalten dann allerdings gefolgt ist, erinnert sie sich nicht mehr genau.

Während sie sich total schlecht fühlt, glaubt er nichts Falsches getan zu haben und wird dabei von seiner Schwester unterstützt: "Das erste Mal tut immer weh" und "Schwamm drüber" schließlich sei Chris (Marius Lamprecht) kein Monster.

#Ist er auch nicht, wie er sichtlich mit sich ringt und nicht weiß, was genau ihm "echt leid" tun soll. Keine Spur von Schuldbewusstsein. Da ist die Maschinerie aber längst angelaufen: Ärztliche Untersuchungen und Polizeibefragungen und ein Shitstorm gegen Emma, weil sie die Nachforschungen ausgelöst hat und Lily zu allem Überfluss ein eindeutiges Foto von ihr und Chris gepostet hat.

Emma wollte eine romantische Annäherung an Chris - aber keinen Sex. Am Ende ringt sie allein mit ihrer Wahrheit und mit ihrer Geschichte, die sie nicht umschreiben kann. Ein nachdenklich stimmendes Stück, überzeugend gespielt, mit berührenden Momenten.

Sendung: Inforadio, 21.01.2022, 08:00 Uhr

Beitrag von Ute Büsing

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