Theaterkritik | "Der Einzige und sein Eigentum" am DT - Alles so seltsam beautiful hier

Mo 05.09.22 | 08:15 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Szene aus "Der Einzige und sein Eigentum" von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater.(Quelle:Arno Declair)
Audio: rbb24 Inforadio | 05.09.2022 | B. Behrendt | Bild: Arno Declair

Sebastian Hartmann macht am Deutschen Theater etwas gänzlich Unerwartetes: Aus einem philosophischen Text, der den Egoismus preist, macht er einen anregenden, witzigen und tatsächlich zu Herzen gehenden Musiktheaterabend. Von Fabian Wallmeier

Es fängt düster an an diesem Sonntagabend im Deutschen Theater: Nur wenig Licht ist auf der Bühne, es dreht sich eine graue, schneckenförmig auf ein Podest in der Mitte hochlaufende Rampe. Nebel steigt auf, dazu wabernde Klänge mit vereinzelten Klavier-Tupfern. Minutenlang geht das so, keine Darstellenden weit und breit.

Ah ja, Sebastian Hartmann will uns mal wieder quälen, mag man denken. Na gut, dann sei es so - denn quälen kann er - und das nicht selten auf eine höchst produktive, bereichernde und seltsam berauschende Art. Doch alles entwickelt sich komplett anders als erwartet: zu einem zarten, melancholischen, überraschend witzigen und verletzlichen Theaterabend.

Szene aus "Der Einzige und sein Eigentum" von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater.(Quelle:Arno Declair)
| Bild: Arno Declair

Gesungen, nicht gebrüllt

So hat man Hartmann am DT noch nicht gesehen. Und schon gar nicht hätte man gedacht, dass er sich dem Musiktheater annähern würde: "Der Einzige und sein Eigentum" wurde vom Musiker PC Nackt durchkomponiert, wird von ihm und Schlagzeuger Earl Harvin live begleitet und vorangetrieben. Die Texte werden zu großen Teilen nicht von den sechs Schauspieler:innen deklamiert und gebrüllt, sondern gesungen.

Sebastian Hartmann und das Publikum des Deutschen Theaters - eine ungetrübte Liebesbeziehung war das nie. Wo etwa "Berlin Alexanderplatz" draufsteht, da will man als DT-Besucher ein ordentlich erzähltes Theater geliefert bekommen, mit Figuren und einer Geschichte, ganz nah am vertrauten Roman. Bekommt man aber bei Hartmann nicht. Er greift sich aus seinen Stoffen nur einzelne Gedanken und Motive und setzt sie zu einem rauschhaften, mitunter an den Nerven zehrenden multimedialen Assoziationsfluss zusammen.

Mit "Der Einzige und sein Eigentum", zum Auftakt der letzten Spielzeit unter Intendant Ulrich Khuon, gelingt ihm nun zum Abschied ein nahezu umarmender Abend. Bei der Premiere fehlte das sonst verlässlich eintretende empörte Türenschlagen frühzeitig Gehender. Nur ein einziger Buh-Ruf mischte sich in den ansonsten unerwartet zugeneigten Applaus.

Philosophie statt Literaturklassiker

Das liegt bestimmt auch daran, dass die Erwartungshaltung eine andere ist, wenn ein Stück narrative Weltliteratur im Titel steht. Doch dieses Mal könnte kein "Lear", kein "Zauberberg", kein "Idiot" (alles Hartmann-Arbeiten am DT in den vergangenen Jahren) die Empörung darüber rechtfertigen, dass man nicht die allvertraute Handlung serviert bekommt."Der Einzige und sein Eigentum" ist kein Literaturklassiker, sondern ein philosophisches Werk von Max Stirner aus dem Jahr 1844 - und dürfte so gut wie niemandem im Publikum vertraut sein.

Ein leichter Stoff ist das nicht: Stirners Hauptwerk feiert den radikalen Egoismus als Antrieb des Menschen. "Ist es mir recht, so ist es recht", lautet ein Satz, der immer wieder fällt. Und natürlich gibt es im Angesicht solcher Düsternis auch reichlich vom (auf den Punkt gebackenen) Hartmannschen Graubrot serviert: kein Hartmann-Abend ohne apokalyptische Solos (am DT oft und auch hier von Linda Pöppel), ohne live gefilmte und projizierte schmerzverzerrte Gesichter in Großaufnahme.

Szene aus "Der Einzige und sein Eigentum" von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater.(Quelle:imago/M.Müller)

Die Bedeutung verschwindet

Doch dem steht dieses Mal eben einiges entgegen. Zunächst mal ist da das, was man bei Hartmann immer bekommt: Die Unkenntlichmachung und Erweiterung der ursprünglichen Themen des Ausgangstextes um viele weitere. Die konsequente Infragestellung des Gezeigten, die produktive, zum eigenen Denken animierende Auflösung der Motive und Gedanken in freie Assoziationen. "Die Bedeutung verschwindet", sagt Linda Pöppel an einer Stelle. Das gilt immer bei Hartmann und es gilt hier ganz besonders.

Denn dieses Mal wird die Bedeutung nicht nur textlich und visuell überlagert, verwischt und in andere Denkräume übertragen, sondern sie bekommt durch Musik, Songtexte und Gesang eine weitere, ganz unmittelbar emotionale Ebene. Die manipulativen Kraft musikalischer Schönheit lässt den Abend auf eine ganz eigene Art leuchten. Und auch die Songtexte sind mitunter ungehemmt kitschig, reden von Liebe und Herzensreinheit, wenn auch die ironische Brechung nie weit ist: "Die Neuen - beautiful. Die Alten - beautiful. Die Kinder - beautiful", heißt es in einem geradezu hymnischen, trip-hoppigen Elektropop-Song.

Ein Musical?

Angekündigt war "Der Einzige und sein Eigentum" zunächst sogar als "Musical" - womit Hartmann und sein Team dann letztlich offenkundig doch gefremdelt haben. "Ein Stück Musiktheater" heißt er nun deutlich spröder im Untertitel. Dabei steckt tatsächlich einiges an Musical drin, wenn auch eher als Schablone. Kurz vor Schluss treten die sechs Schauspieler:innen (Elias Arens, Felix Goeser, Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege und Niklas Wetzel) zum ironisch gebrochenen Showtanz an. Immer etwas ungelenk, tastend, einander linkisch beobachtend, machen sie die musical-typischen Jazzhands-Bewegungen und wackeln auf sehr witzige Art haarscharf am Timing vorbei nach vorn an die Rampe,

Sie singen dabei eine Art Power-Ballade: "Weil Licht aus deinen Augen fällt / und fiel ins Jetzt und Hier." Das "Hier" zerdehnen sie zu einem "Hiaaaar", als wollten sie einen Max-Giesinger-Imitationswettbewerb gewinnen. Und zusammen geht all das auf wundersame Art auf. Die perfekt auf schlecht choreographierte Tanz-Performance, die affektierte Deutsch-Pop-Pose, der ungehemmte Pathos der Musik - in dieser Mischung geht das tatsächlich eigentümlich zu Herzen.

Dann wird es doch noch einmal düster. Fünf Schauspieler:innen verlassen die Bühne, Niklas Wetzel bleibt allein zurück, zerrt sich schmerzverzerrt die Rampe hoch. Als Schlusspunkt also doch noch einmal Hartmannsches Graubrot, denkt man - und wird wieder überrascht: Der Abend endet am Klavier. Alle sechs stehen um PC Nackt herum, lächeln und singen ein letztes Mal. Ja, das ist wirklich beautiful.

Sendung: rbb24 Inforadio, 05.09.2022, 06.00 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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