"Der Hauptmann von Köpenick" am Atze Musiktheater - Kein Mensch ist illegal

So 23.10.22 | 10:56 Uhr | Von Barbara Behrendt
  6
Markus Braun (Mitte) spielt in der Inszenierung "Der Hauptmann von Köpenick" am Atze Musiktheater in Berlin für Kinder ab 10 Jahren die Hauptfigur Wilhelm Voigt (Quelle: Presse / Jörg Metzner).
Audio: rbb24 Kulturradio | 23.10.2022 | B. Behrendt | Bild: Presse / Jörg Metzner

"Der Hauptmann von Köpenick" als Musical für Kinder ab zehn Jahren: Thomas Sutter erzählt die Posse am Atze Musiktheater als Geschichte über Klassismus und menschenunwürdige Rechtsprechung – vom Kaiserreich bis in die Gegenwart. Von Barbara Behrendt

Den Allerweltsnamen Wilhelm Voigt trugen viele, den Hauptmann von Köpenick aber gab es nur einmal: Die Geschichte vom Hochstapler aus Ostpreußen, der 1906 in einer Uniform vom Trödler das Köpenicker Rathaus besetzt, die Stadtkasse plündert und den Preußischen Militärgehorsam lächerlich macht, ging um die Welt. Sie faszinierte die Zeitungen, den Film und die Bühne. Harald Juhnke und Heinz Rühmann haben den Hauptmann auf der Leinwand verkörpert, Katharina Thalbach und Milan Peschel auf der Bühne.

Ihre Geschichte hatte allerdings wenig mit Wilhelm Voigts wirklichem Leben zu tun, das deutlich weniger märchenhaft schillerte, als Carl Zuckmayer das in seinem berühmten Theaterstück beschrieben hat. Anders macht es nun der Regisseur Thomas Sutter am Atze Musiktheater in Berlin-Wedding: Er stellt die Biografie Voigts ins Zentrum seiner Fassung des "Hauptmanns".

Franziska Marie Gramss (2. v.l.) spielt in der Inszenierung "Der Hauptmann von Köpenick" am Atze Musiktheater in Berlin für Kinder ab 10 Jahren die Rolle der Erzählerin Marie (Quelle: Presse / Jörg Metzner).
"War meen Bruder n juter Mensch oder wara n schlechter Mensch?": Die Erzählerin Marie (Franziska Marie Gramss, Mitte). | Bild: Presse / Jörg Metzner

Die letzten Lumpen

Erzählt wird dieses Leben von Wilhelms Schwester Marie im derben Berlinerisch, das Musical richtet sich an Kinder ab zehn Jahren. An einer alten Nähmaschine haut die junge, lebhafte Frau zu Beginn kräftig ins Pedal – und stellt der Geschichte um ihren kriminellen Bruder eine Grundfrage voran: "War meen Bruder n juter Mensch oder wara n schlechter Mensch? Ick weeß dit bis heute nich. Vielleicht könnt ihr mir da weiterhelfen."

Dazu marschiert ein Trupp Gefangener in Sträflingskleidung hinter einem mächtigen Holz-Gitter und singt den finsteren Song von den Aussortierten: "Wir sind die Aussortierten. Wir sind die letzten Lumpen. Wir sind die Degradierten. Wir sind die, die keiner mehr will."

Dann beginnt der düstere Rückblick in Wilhelms Kindheit. Ein vom Ersten Weltkrieg traumatisierter Vater wird zum Alkoholiker und misshandelt seinen Sohn regelmäßig brutal. Markus Braun gibt diesen Wilhelm als weichen, sympathischen Jungen, der zitternd mit nacktem Oberkörper antreten muss, während der Gürtel bedrohlich neben ihm auf den Boden knallt. Die Mutter hat der Vater totgeschlagen, erzählt Marie später.

Während der Gewalt- und Kriegsszenen sind die Projektionen auf den großen Leinwänden blutrot gefärbt, schwarze fahle Masten marschieren im Gleichschritt übers Bild wie geschundene Kreaturen. Dazu jaulen die E-Gitarren. Das ist sicher nicht für jedes Kind gut zu verkraften.

Service

Markus Braun (2. v.l.) spielt in der Inszenierung "Der Hauptmann von Köpenick" am Atze Musiktheater in Berlin für Kinder ab 10 Jahren die Hauptfigur Wilhelm Voigt (Quelle: Presse / Jörg Metzner).
Presse / Jörg Metzner

Atze Musiktheater - Der Hauptmann von Köpenick

Eine szenisch-musikalische Erzählung von Thomas Sutter nach der Autobiografie von Wilhelm Voigt am Atze Musiktheater in Wedding, Länge: 120 Minuten, Altersempfehlung: ab 10 Jahren. Einzelkarten kosten 12,05 Euro, Familienpreis ermäßigt.

Die nächsten Vorstellungen: Sonntag, 23. Oktober, 16 Uhr, Sonntag, 27. November, 16 Uhr, Montag, 28. und Dienstag 29. November, jeweils 10:30 Uhr.

Zermahlen von der Bürokratie

Der besoffene Vater ist es denn auch, der Wilhelm im tiefsten Winter nur in Unterhosen aus dem Haus treibt und ihn zum Bettler macht - was dem Sohn mit 14 die erste Gefängnisstrafe einbringt. Der Beginn seiner Diebstahlkarriere. So sehr sich Wilhelm auch anstrengt ein ehrlicher Mensch zu sein: Gesetze und Bürokratie zermahlen ihn. Es ist ein Teufelskreis: "Ohne Arbeit krieg ick keene Wohnung. Ohne Wohnung krieg ick keene Uffenhaltsjenehmigung. Ohne Uffenhaltsjenehmigung krieg ick keenen Pass. Ohne Pass krieg ick keene Arbeit", sagt er.

Kein so großes Wunder also, dass Wilhelm irgendwann verzweifelt genug ist, ein völlig irres Ding zu drehen und als falscher Hauptmann ins Köpenicker Rathaus zu marschieren. Diesen berühmten Streich handelt Thomas Sutter nur oberflächlich ab. Er erzählt die Geschichte als hartes Sozialdrama, in dem üble Familienverhältnisse gepaart mit einem asozialen Rechtssystem Wilhelm das Genick brechen.

Auf der Bühne wird daraus eine erzählerisch nicht unkomplizierte Arbeit. Marie springt als Erzählerin zwischen den Zeiten, zudem sprechen zwischendurch zwei Wilhelms: der "echte" und sein Über-Ich. Das muss erst einmal entschlüsselt werden. Einen Hochstapler-Jux à la Zuckmayer bekommt man hier also nicht zu sehen. Nur die orientalischen Klänge der Musiker hier und da und ein sonniges Berlin-Lied, das die optimistische Marie einstreut, schön und warmherzig gespielt von Franziska Marie Gramss, hellen die Stimmung auf.

Ende (zu) gut

Maries Frage, ob ihr Bruder ein guter oder ein schlechter Mensch sei, wird allerdings allzu rasch mit "gut" beantwortet. Denn Sutter folgt der schöngefärbten Autobiografie Voigts, nach der er das Köpenicker Rathaus nur überfallen hat, um ein Passformular zu erbeuten. Und er lässt Voigt zuletzt sogar einer Geflüchteten Almosen geben, damit sie sich ein Aufenthaltsrecht erkaufen kann.

Dieses weichgespülte Ende Wilhelms will zwar nicht so recht zur düsteren Realität vom Anfang passen. Wie Sutter es dabei aber gelingt, die gut hundert Jahre alte Posse mit der Flüchtlingsfrage von Heute zu verbinden, in der die bürokratischen Hürden und widrigen Gesetze gar nicht so weit vom preußischen Unrecht entfernt zu liegen scheinen - das erschreckt und bewegt.

Zum Happy End bekommt Wilhelm endlich seinen Pass gereicht, überdimensional groß schwebt der rote Reisepass der Bundesrepublik vom Himmel herab. Darin steht in riesigen Lettern: Kein Mensch ist illegal. Schön wär’s.

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.10.2022, 6:55 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

6 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 6.

    Lieber KHGG,

    vielen Dank für den Hinweis. Wir haben es entsprechend korrigiert.
    Liebe Grüße, Ihr rbb24-Team

  2. 5.

    @rbb24
    Bitte berichtigen: Voigt hat die Uniform nicht gestohlen, sondern in Wahrheit beim Trödler gekauft.

  3. 3.

    Um den geht es ja nicht. Es geht um klassische Indoktrination. Hatten wir bereits in der DDR (Jung- und Thälmannpioniere, FDJ) und auch in den Jahren davor (DJ, BDM, HJ) bereits.
    Allerdings ohne Kinderseelen mit oben erwähnten Mitteln zusätzlich zu schocken.

  4. 2.

    Kein Mensch ist illegal? Das wäre mir neu. Die Einzelheiten regelt § 53 AufenthG.

  5. 1.

    Wie peinlich. Bleibt mal lieber beim Original-Hauptmann.

Nächster Artikel