Performance | "Phantasm" im Pierre-Boulez-Saal - Erstklassige Musik, anmutiger Tanz - und eine bittere Pointe

Fr 24.03.23 | 09:07 Uhr | Von Hans Ackermann
Performance "The Art of Being Human".(Quelle:Marcus Lieberenz)
Audio: rbb24 Inforadio | 24.03.2023 | Hans Ackermann | Bild: Marcus Lieberenz

Noch bis Samstag ist im Berliner Pierre-Boulez-Saal die interdisziplinäre Performance "The Art of Being Human" zu erleben. Neben Musik und Tanz spielen darin auch weiße Tücher und rätselhafte Skulpturen eine Rolle. Von Hans Ackermann

In fast völliger Dunkelheit beginnt die Performance des des Gamben-Ensembles "Phantasm" im Berliner Pierre-Boulez-Saal. Leblos scheinende Körper, eingehüllt in weiße Tücher, werden über den Boden hereingeschleift und in der Mitte des ovalen Saals behutsam zwischen fünf ebenfalls verhüllte, felsenartige Skulpturen gelegt.

Erstklassiges Gamben-Consort

Auf diesen fünf "Felsen" sitzen wenig später die Musikerinnen und Musiker. Eine einzelne Gambe beginnt zu spielen, nacheinander stimmen die anderen in den Satz "In Nomine Trust" von Christopher Tye ein. Geboren im Jahr 1505 ist Tye der älteste Komponist, der an diesem Abend gespielt wird. Über William Byrd und John Dowland bewegt sich das musikalische Programm bis zum 1659 geborenen Henry Purcell chronologisch durch die Geschichte der Alten Musik Englands - gespielt von einem der besten europäischen Gambenconsorts, also mehreren Gamben unterschiedlicher Tonlage. Seit 2015 ist der in Boston geborene Laurence Dreyfus mit seinem vielfach preisgekrönten Ensemble in Berlin ansässig.

Kommunikation, Vertrauen, Empathie

Zur Musik erwachen unter den Tüchern nun langsam die Körper. Anfangs schauen nur einzelne Hände und Füße unter dem weißen Leinen hervor, am Ende umkreisen fünf weißgekleidete Tänzerinnen und Tänzer leichtfüßig die Gambisten in der Mitte des Raumes. Man hat den ersten Kontakt aufgenommen, vertieft die Beziehungen und festigt mit besonderen "Übungen" das gegenseitige Vertrauen: Mit dem Instrument im Arm lassen sich die Gambisten furchtlos nach hinten fallen, werden dabei aber von den Tänzern sicher aufgefangen.

Spieltechnische Herausforderung

Die fünf Musikerinnen und Musiker sind an diesem Donnerstagabend in besonderer Weise gefordert. Denn während sie mit den Tänzern körperlich interagieren, wollen sie natürlich ihr hohes spieltechnisches Niveau nicht verlieren.

Dreyfuss nennt den Abend deshalb "challenging", diese Herausforderung gelingt dem Ensemble allerdings bravourös. Dennoch ist ein schöner musikalischer Moment jener, wenn sich das Ensemble für einige Instrumentalsätze hoch oben im 2. Rang des Pierre-Boulez-Saals platziert und dort "ungestört" musiziert. Den Blick zur holzgetäfelten Decke des Saals gerichtet, läuft man Gefahr, das agile tänzerische Treiben unten im Saal geradewegs zu vergessen.

Vom Konflikt zur Empathie

"Die Kunst des Menschseins" - denkbar wäre auch die Übersetzung "Die Kunst, menschlich zu sein" - wird an diesem Abend aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Überwiegend aus humanistisch-optimistischer Sicht, aber auch in ihren dunklen Momenten, wenn statt freundlicher Kommunikation erbitterte Konflikte entstehen. Im tänzerisch-pantomimischen Körpertheater der renommierten Choreographin Sommer Ulrickson führen solche dunklen Wolken kurzzeitig schon mal zu wütendem Gestampfe. Doch schnell umarmt man sich auch wieder, zeigt Mitgefühl und Empathie - weitere Grundfesten des Menschseins.

"Floß der Medusa" als Inspiration

Bei aller Anmut des Tanzes und aller Schönheit der Musik wird es ganz am Ende der modernen Performance bitter ernst. Denn wenn die fünf "Felsen" wie ein Puzzle zusammengeschoben werden, wird plötzlich deutlich, was die von Alexander Polzin geschaffene Skulptur richtig zusammengesetzt wirklich zeigt: leblose, ineinander verschlungene menschliche Körper, inspiriert von Théodore Géricaults berühmtem Gemälde "Das Floß der Medusa", das im Pariser Louvre hängt.

Ein Gemälde, das verdurstende, von der Welt vergessene Schiffbrüchige zeigt, gemalt nach einem Drama, das sich 1816 tatsächlich vor der westafrikanischen Atlantikküste ereignet hat. Und im Mittelmeer vor Lampedusa heute noch passiert, wohl noch solange, bis aus der "Kunst, menschlich zu sein" eine verbindliche Handlungsnorm geworden ist.

"Die Kunst des Menschseins" - "The Art of Being Human" mit dem Gamben-Ensemble "Phantasm", im Berliner Pierre-Boulez-Saal, ist noch einmal zu sehen am Freitag (24.3.) um 19.30 Uhr und am Samstag (25.3.) um 19.00 Uhr

Sendung: rbb24 Inforadio, 24.03.2023, 6 Uhr

Beitrag von Hans Ackermann

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