Konzertkritik | Simon Rattle & London Symphony Orchestra - Wenn die Zeit stillsteht

Di 29.08.23 | 09:04 Uhr | Von Hans Ackermann
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London Symphony Orchestra in der Berliner Philarmonie, Sir Simon Rattle (Quelle: Fabian Schellhorn)
Audio: rbb24 Inforadio | 29.08.2023 | Hans Ackermann | Bild: Fabian Schellhorn

Mit der Sinfonie Nr. 9 von Gustav Mahler ist das London Symphony Orchestra mit seinem Chefdirigenten Simon Rattle am Montagabend beim Berliner Musikfest aufgetreten. In der Berliner Philharmonie hat Hans Ackermann dabei ein grandioses Abschiedskonzert erlebt.

2018 hat Simon Rattle das London Symphony Orchestra übernommen, war zuvor Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Mit einer letzten gemeinsamen Tournee verabschiedet sich Rattle nun von seinem Londoner Orchester. Vom kommenden Jahr an wird er in München das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leiten.

Sir Simon Rattle.(Quelle:Oliver Helbig)
Sir Simon Rattle. | Bild: Oliver Helbig

Abschied ohne Melancholie

Nur ein einziges Werk steht auf dem Programm - die Sinfonie Nr. 9 von Gustav Mahler. Die Musik beginnt mit einem seufzenden Motiv aus zwei absteigenden Tönen. Ein Motiv, das in den folgenden gut 90 Minuten immer wieder auftauchen wird. "Lebt wohl" könnte man zu dieser "Melodie" singen - "Lebt alle wohl".

Denn es geht um Abschied in Gustav Mahlers neunter Sinfonie. Simon Rattle, der in diesen Tagen - am Sonntag in der Londoner Royal Albert Hall, einen Tag danach in der Berliner Philharmonie - seine letzten Konzerte als Chefdirigent des London Symphony Orchestra spielt, hat dieses Werk ganz bewußt ausgesucht.

Verzerrte Ländler

Zum Glück wird man in seiner fokussierten und nie sentimalen Interpretation des 1910 komponierten Werks nicht unter Abschiedsschmerz und Melancholie begraben, sondern im "Scherzo" sogar an fröhliche Zeiten erinnert - mit Ländlern und Walzern aus der Tiroler Bergwelt.

Mahler, der volkstümliche Naturliebhaber, mit Komponierhäuschen am See - unter der Satzbezeichung "Im Tempo eines gemächlichen Ländlers" kommt diese Facette des Komponisten auch in der neunten Sinfonie vor. Allerdings verfremdet Mahler die volkstümliche Musik im Verlauf des Satzes immer mehr, aus Volkstänzen werden am Ende groteske Totentänze.

Simon Rattle summt und singt die Musik immer mal wieder leise mit. Mit deutlichen Bewegungen und Gesten führt er das Orchester, "sticht" mit dem Taktstock in der rechten Hand mal in die eine, mal in die andere Instrumentengruppe hinein, um dort den Einsatz zu geben. Mit der Linken kann man ihn engagiert das Vibrato der Streicher "mitspielen" sehen.

Rattle und sein Londoner Orchester lassen auf diese Weise quicklebendige Musik entstehen, die erst 1912 und damit ein Jahr nach Mahlers frühem Tod von Bruno Walter in Wien uraufgeführt wurde.

Bilder von Breughel und Dix

Nach Mahlers Ausflug im "Scherzo" erzählt der dritte Satz - überschrieben mit "Rondo-Burleske" - in modernen kontrapunktischen Stimmverläufen vom hektischen Stadtleben

des beginnenden Industriezeitalters - vielleicht aber auch von etwas ganz anderem. Das Schöne am Hören von Mahler-Sinfonien ist: die rund 2000 gebannt lauschenden Menschen, die an diesem grandiosen Abend in der vollbesetzten Philharmonie zuhören, können bei dieser mit größter klanglicher Freiheit komponierten Musik ihre jeweils eigenen Vorstellungen und Assoziationen entwickeln.

Simon Rattle selbst hat vor der Liveübertragung des Konzerts am vergangenen Sonntag im britischen Sender "BBC Radio 3" den Zuhörern erzählt, dass er beim "Scherzo" an Bilder von Pieter Brueghel denke, beim anschließenden "Rondo-Burleske" an Otto Dix.

Einen Tag später ist Rattle am Pult in Berlin wieder in einer ganz persönlichen "Mahler-Welt". Wenn er das unglaublich vielschichtige Orchesterwerk auswendig dirigiert und im Schlusssatz Geigen und Bratschen, Celli und Kontrabässe prächtige Harmonien zwischen Himmel und Erde spielen lässt. Später kommen die Bläser und das Schlagwerk dazu, aber irgendwann beginnt alles zu verblassen, bis das "Adagio" schließlich im vierfachen Piano im klanglichen Nichts verklingt. Die Streicher lassen ihre Bögen aber noch weiter an den Instrumenten, so als wenn sie noch spielen würden.

Denn hier steht gerade die Zeit still - erst nach einer guten Minute lässt Rattle seinen Stab sinken und riesiger Applaus setzt ein. Ein Vergnügen, diesen großen britischen Mahler-Dirigenten - der, wie er selbst sagt, überhaupt nur wegen Mahler Dirigent geworden sei - an diesem Abend bei der Arbeit zuzuschauen.

Information

Das Konzert mit "Mahler 9", das Simon Rattle einen Tag zuvor mit dem London Symphony Orchestra bei den diesjährigen BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall gespielt hat, kann bei "BBC Radio 3" kostenlos nachgehört werden

https://www.bbc.co.uk/programmes/m001ptvf

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.08.2023, 6 Uhr

Beitrag von Hans Ackermann

2 Kommentare

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  1. 2.

    Ich schließe mich Herrn Wojtek an. Das war eine großartige Kritik. Keine leeren Phrasen, sondern die Musik sovgut on Worte gefasst, dass man fast ein bisschen dabei war. Auch ich sage "danke" Herr Ackermann.

  2. 1.

    Danke für den Link, Herr Ackermann! So eine schöne Kritik und so ein toller Service!

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