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Interview | Brigitte Grothum über Wolfgang Neuss

"Solche Kabarettisten wie ihn gibt es heute gar nicht mehr"

Wolfgang Neuss durchlief in seinem Leben einen drastischen Wandel: vom gefeierten Kabarettisten zum Kiffer. Am 3. Dezember wäre er 100 Jahre geworden. Schauspielerin Brigitte Grothum erinnert an gemeinsame Arbeit und eine besondere Freundschaft.

Wolfgang Neuss wurde in den Nachkriegsjahren bekannt als "Mann mit der Pauke". Er wirkte an mehr als 50 Filmen mit - darunter "Der Hauptmann von Köpenick", "Die Drei von der Tankstelle" und "Wir Kellerkinder".

Mit seinen Aktionen eckte Wolfgang Neuss auch immer wieder an: Er verriet einem Millionenpublikum einer bekannten Krimiserie im Vorfeld den Mörder, sprach den damaligen Bürgermeister von Berlin Richard von Weizsäcker mit "Richie" an und forderte die Legalisierung von Cannabis.

Brigitte Grothum

rbb: Frau Grothum, wie erinnern Sie die erste Begegnung mit Wolfgang Neuss?

Brigitte Grothum: Ich war damals noch Schauspielschülerin. Um ein bisschen Geld zu verdienen, habe ich Komparserie gemacht im Film "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" von 1954. Und da war auch Wolfgang Neuss. Ich kannte seinen Namen. Er war ja als Kabarettist bekannt. Aber da habe ich ihn das erste Mal überhaupt wahrgenommen als Mensch. Und er war entzückend.

Wie entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Ihnen?

Ich bekam eine Rolle in einer Komödie, bei der Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller die Produzenten waren. Und da dachte ich mir: 'Oh, mit denen zu spielen, das muss ja toll sein!'

Der Regisseur war Leonard Steckel. Und Steckel war berühmt für seine Robustheit. Der war auch mit jungen Schauspielern sehr streng. Ich spielte die Rolle und erlebte Steckel bei der Probe eines Tages so schrecklich. Er hat mich so zusammengestaucht. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Und dann geschah etwas ganz Tolles.

Dann kam nämlich dieser kräftige, selbstbewusste, direkte Wolfgang Neuss zu mir und sagte: "Sag mal Kleene, warum machst du diesen Beruf, wenn du keine Lust hast?" Ich habe mich so fertiggemacht. Da hat er mich genommen, in seinen Sportwagen gesetzt und mich zum Essen oder zum Kaffee eingeladen. Und es war ein zauberhafter Nachmittag.

Man konnte sich in seinen Geist verlieben, in seine Persönlichkeit. Es wäre nie eine Verliebtheit gewesen, wie man sich in junge Männer verliebt. Nein, ich war in seine Persönlichkeit verliebt. Von dem Tag an waren wir befreundet.

In den Folgejahren haben Sie viel mit Neuss zusammengearbeitet. Zum Beispiel auch beim Kabarett-Stück "Schieß mich, Tell!"

Eines Tages drückte mir Wolfgang Neuss einen Stapel Papier in die Hand und sagte: "Lies das mal, Kleene!" Es war das Sujet, also der Beginn für die Planung für das Kabarett-Stück "Schieß mich, Tell". Ich war in der Zeit etwa 20 Jahre alt und politisch total ahnungslos. Und ich habe das gelesen und ich war fasziniert. Ich habe ihm das Sujet wiedergegeben und gesagt: "Das ist toll." Und dann sagte er: "Ganz ehrlich, Kleene? Dann machen wir das!" Das war für mich so ein Aha-Erlebnis, dass dieser tolle Man mich fragt, wie ich das finde. Und ich bekam dann auch eine kleine Rolle.

100 Jahre Loriot | Interview Stefan Lukschy

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Stefan Lukschy war über viele Jahre Co-Regisseur von Vicco von Bülow alias Loriot. Beide waren aber auch Freunde. Zum 100. Geburtstag Loriots spricht Lukschy darüber, was die Komik von Bülows ausgemacht hat und wie es war, mit ihm zu arbeiten.

Was haben Sie an seiner Arbeit geschätzt?

Die Proben zu "Schieß mich, Tell!" waren das Schönste, was ich je in meinem Theaterleben erlebt habe. Neuss hat das Ganze so zusammengehalten. Das Stück war ein politisches Feuerwerk. Alles, was der Deutsche war, wurde durch den Kakao gezogen. Aber die Musik hat zum Schluss alles aufgelöst und es gab einen Nachhall. Und es war nie bösartig, nie tückisch. Das Stück hatte so viel Charme, so viel Frechheit, so viel Niveau.

Wie war Wolfgang Neuss als Mensch?

Er war eigentlich alles. Man kann ihn gar nicht mit einer Facette schildern. Er war selbstbewusst, er war stark. Damals habe ich ihm auch oft gesagt: "Du bist für mich der stärkste Mann, den ich kenne." Er war charmant, ein Gentleman. Er war sehr sensibel, unglaublich sensibel. Er hat eine ganz weiche, zarte Seele. Und er war großzügig bis zum geht nicht mehr und sehr direkt.

Er war eigentlich von seiner Profession als Kabarettist nicht von dem Menschen zu trennen, der er persönlich war. Das war eins. Er sprach auf der Bühne ganz genauso wie im Leben. Er war in dem Sinne kein Schauspieler, der etwas darstellt, er war total authentisch. So wie er als Mensch war, so war er auf der Bühne. Und so war er auch später als Ruine.

Ausdrucksstarke Mimik: Wolfgang Neuss (l.) neben dem damaligen Berliner Bürgermeister Richard von Weizsäcker in einer Fernsehtalkshow 1983. | Quelle: dpa

Sie spielen damit auf sein späteres Leben an. Neuss fing an, Marihuana und LSD zu konsumieren, er lebte von Sozialhilfe und trat mit fettigen Haaren auf. Wie erklären Sie sich diese Veränderung?

Ich habe oft drüber nachgedacht. Er war wohl sehr krank. Er hatte wohl Krebs, weswegen er Betäubungsmittel nehmen musste. Ob das der Anfang war vom Einstieg in die Drogen war oder ob er sowieso eingestiegen wäre, weiß ich nicht.

Ich habe mich immer gefragt, wie es sein kann, dass dieser kräftige, starke Mensch plötzlich als Ruine dasteht. Aber geistig war er keine Ruine. Er hat den Körper vernachlässigt, er war ihm nicht mehr wichtig. Er muss irgendeine Veränderung, eine philosophische Veränderung durchgemacht haben in seinem Inneren, dass er sagte: "Jetzt bin ich eigentlich erst ich geworden, indem ich alles abgelegt habe. Und mit den Drogen habe ich die Freiheit." So kann ich es mir nur erklären. Aber ich weiß es nicht.

Im Jahr 1960 starb Neuss' langjähriger Kabarett-Partner Wolfang Müller bei einem Flugzeugabsturz. Glauben Sie, dass Müllers Tod etwas mit dieser Veränderung zu tun hatte?

Er sagte zwar, das hätte sein Leben nicht verändert. Aber ich glaube, es hat ihm das Genick gebrochen. Er war danach anders. Die beiden waren so verwachsen miteinander. Er war der Kopf, er war der Kraftprotz. Und der Müller war das Herz, die Seele.

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Welche Bedeutung hat Wolfgang Neuss noch heute?

Er ist ein wichtiges Zeitdokument, vor allem aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Er war ein echter Linker. Also nicht nur so einer, der mitmachte, sondern jemand, der gesinnungsmäßig auch fundiert war, der sicher auch seinen Marx gelesen hatte und nicht nur drüber schwafelte. Ich glaube, heute gibt es solche Kabarettisten gar nicht mehr, die das so ernst meinen, was sie sagen. Und das habe ich vorhin gemeint: Er war auch auf der Bühne so authentisch. Er hätte keinen Satz gesagt, nur um der Pointe willen. Er hat diese Sachen gesagt, weil er sie meinte.

Er hat gedacht, dass man durch Literatur, Kabarett, Theater oder was auch immer die Welt ein bisschen verändern kann. Er ist sicherlich am Ende seines Lebens zu dem Entschluss gekommen, dass man das leider nicht kann. Insofern hatte er auch Illusionen. Aber auch Visionen, wie es gehen könnte. Er war er ein Kabarettist, von der Sorte es heute kaum noch welche gibt. Und als solcher bleibt er sicherlich in ewiger Erinnerung.

Danke für das Gespräch!

Das Interview führte Margarete Kreutzer für rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte, gekürzte Fassung.

Sendung: rbb Kultur, 02.12.2023, 18:30 Uhr

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