Häusliche Gewalt gegen Männer - "Ich fühlte mich als totaler Versager"

Mi 15.03.23 | 20:46 Uhr | Von Alexandra Friedmann
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Clemens steht auf einer S-Bahn Brücke in Berlin (Quelle: Alexandra Friedmann)
Bild: Alexandra Friedmann

Jedes fünfte Opfer von häuslicher Gewalt ist ein Mann – immer noch ein Tabuthema. Betroffene werden oft alleingelassen. So ging es auch Clemens. ihn kostete die Spirale aus Scham und fehlenden Hilfsangeboten fast das Leben. Von Alexandra Friedmann

Eine S-Bahn-Brücke in Berlin, hinter einem Hochhaus geht gerade die Sonne unter. Clemens umfasst das Brückengeländer, unter seinen Füßen rast ein Schnellzug vorbei. Vor einigen Jahren stand er schon einmal auf einer Brücke, erzählt Clemens. Damals war er über das Geländer geklettert, auf die andere Seite. An diesem Abend wollte Clemens seinem Leben ein Ende setzen. Zuhause war die Situation so unerträglich geworden, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah.

Als Clemens seine damalige Partnerin kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Nach kurzer Zeit zieht das Paar zusammen. Doch schon bald kippt die Stimmung. "Wir waren gerade dabei, Möbel aufzubauen, als sie einen Streit anfing. Sie schrie mich an und begann, auf mich einzuschlagen", erinnert sich Clemens.

Immer häufiger kommt es zu Streitereien, die eskalieren. Clemens berichtet von Schlägen, Tritten, Bisse in den Unterarm. Immer wieder versucht er, die Situation zu entschärfen. Und er beginnt, den Fehler bei sich zu suchen. Dass er ein Opfer von häuslicher Gewalt ist, wird ihm nicht sofort bewusst.

Auf einem Auge blind

Gerade Männern würde es häufig schwerfallen, sich als Opfer wahrzunehmen und sich Hilfe zu suchen, erklärt Torsten Siegemund von der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz. Körperliche Gewalt, wie zum Beispiel eine Ohrfeige, würden von den Betroffenen heruntergespielt. Viele Männer zeigen Übergriffe gar nicht erst an, vermutet Siegemund. Es sei von einem hohen Dunkelfeld auszugehen.

Dabei zeigen auch die offiziellen Statistiken, dass Clemens Geschichte bei Weitem kein Einzelfall ist. Laut Bundeskriminalamt ist fast jedes fünfte Opfer von häuslicher Gewalt ein Mann (19,7%, Stand 2021). Wenn es um gefährliche Körperverletzung in der Partnerschaft geht, ist bei fast jeder dritten Tat das Opfer männlich.

Zahlen, die bei vielen auf Ungläubigkeit stoßen. Viele könnten sich kaum vorstellen, dass auch Männer in der Beziehung Gewalt erfahren, erklärt Soziologieprofessor Jens Luedtke. "Der Mann ist angeblich groß, kräftig und der Frau überlegen. Solche Stereotype wirken in unserer Gesellschaft auch heute noch", führt Luedtke aus.

Auch Clemens schämt sich für das, was ihm in der Beziehung passiert. Und er hat das Gefühl, sich niemandem anvertrauen zu können. Damit ist er nicht allein. Tatsächlich spricht nur etwa einer von vier Männern mit anderen über Gewalterfahrungen in der Partnerschaft, zeigt eine Befragung von 2014 (Sonderbericht Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen, LKA Niedersachsen). Jene, die doch Hilfe suchen, finden nicht immer welche.

"Wenn ein Problem in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht existiert, gibt es auch keinen Grund, Hilfsangebote zu schaffen", gibt Luedtke zu bedenken. Als Gesellschaft seien wir so auf einem Auge blind.

Ein Ausweg für Betroffene

Die wiederkehrende Gewalt von Seiten seiner Partnerin hat schwere Auswirkungen auf Clemens Psyche. Er spricht von Selbstzweifel und Depressionen, fühlt sich als Versager. Schließlich wird ihm klar, dass er Hilfe braucht. Clemens sucht nach einer Männerschutzwohnung in seiner Nähe. Doch die nächste Einrichtung befindet sich in einem anderen Bundesland.

Derzeit existieren deutschlandweit zwölf Männerschutzwohnungen mit insgesamt 41 Plätzen. Das ist gerade mal ein Platz auf etwa 690 Betroffene [Polizei-Stsatistik 2021, BMI]. Bei jedem zweiten Mann, der hier Zuflucht sucht und abgewiesen wird, ist der Grund Platzmangel. Der Bedarf an Männerschutzeinrichtungen ist also durchaus gegeben, jedoch existieren solche Einrichtungen derzeit nur in fünf Bundesländern [Homepage Männergewaltschutz].

Keine Männerschutzeinrichtung in Berlin

Berlin ist keines davon. Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung sieht sich für die Förderung einer solchen Einrichtung nicht zuständig und weist darauf hin, dass "Frauen ein höheres Risiko haben, schwere, bedrohliche und lebensgefährliche Gewalt in heterosexuellen Paarbeziehungen zu erleben als Männer."

Das möchte niemand bestreiten. Betroffenen Männern wie Clemens hilft das wenig. An jenem Abend auf der Brücke ist es ein Hupgeräusch, das ihm im letzten Moment das Leben rettet. "Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht sterben wollte, sondern einen Ausweg suchte."

Clemens greift nach einem letzten Rettungsanker und geht freiwillig in die offene Psychiatrie. Dort findet er die Kraft, die Beziehung endgültig zu beenden. Heute glaubt er wieder an die Liebe. Und doch: Hätte er früher Hilfe gefunden, hätte er sie dankend angenommen, sagt er heute. So wäre ihm womöglich einiges erspart geblieben.

Sendung: Jetzt mal konkret, 15.3.2023, 16 Uhr

Beitrag von Alexandra Friedmann

13 Kommentare

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  1. 13.

    Bin gerade sehr nachdenklich, denn dieses Thema wird leider nicht wichtig genug beachtet. Ein sehr guter Bekannter von uns hat genau diese Gewalt erlebt….60 Jahre, Mediziner. Diese toxische Beziehung hat ihn aus der Bahn geworfen, aber nicht in der Lage, sie zu beenden. Mittlerweile ist auch der Kontakt zu uns abgebrochen worden. Auch er sieht die „Schuld“bei sich, dass er gedemütigt und geschlagen wird. Wir können Hilfe anbieten..leider nicht mehr.

  2. 12.

    Ja, so ist es, den Focus auf den Gewaltmechanismus legen, gegen wem auch immer., das würde die Gesellschaft weiter bringen.
    Es ist doch allgemeine Zunahme an Gewalt zu verzeichnen, ob mit Wort oder Tat, in so fern handelt es sich um ein Problem auf vielen Ebenen, und logischerweise als solches wäre es zu behandeln.
    Übrigens, Kinder sind öfter der Gewalt ausgesetzt als Frauen, auch statistisch gesehen, und wir als Erwachsene sollten dies anerkennen, und der erste Schritt wäre dann, nicht zu relativieren, oder zu verharmlosen.

  3. 11.

    Weder ich und m.E. auch nicht Steffen haben bestritten, dass Frauen statistisch klar öfter massiver Gewalt ausgesetzt sind. Auch im Artikel wird dies nochmal bestätigt. Hier geht es aber nun mal darum, dass Gewalt gegen Männer überproportional seltener wahrgenommen wird als sie stattfindet. - Thema sind hier einfach Individuen und die ihnen zur Verfügung stehenden Hilfen. Ein geschlechtsspezifischer Schutzraum ist im vorliegenden Beispiel vielleicht tatsächlich nicht nötig, das kann ich nicht beurteilen. Dennoch suchen laut Artikel auch Männer eigentlich Hilfe in derartigen Einrichtungen, werden jedoch in der Hälfte der Fälle (ebenfalls) abgewiesen. Und nun kommen wieder Aussagen, dass diese Männer es statistisch gesehen ja auch gar nicht brauchen - also offenbar Weicheier sind. -- Also lassen Sie uns doch bitte wirklich den Fokus allgemein auf Gewaltmechanismen legen. Schuld am Männlichsein empfinden eh vor allem die, die kaum toxische Tendenzen haben.

  4. 10.

    @Steffen & @Frank S
    Typisch ist hier wieder, dass drei Männer über Leidempfinden diskutieren (bin ja auch einer).
    Frauen erfahren 50% wahrscheinlicher Bedrohung, Stalking, Nötigung, werden fast 50% wahrscheinlicher ihrer Freiheit beraubt und sex. Übergriff, sex. Nötigung, Vergewaltigung liegt sogar bei nahezu 1000% mehr. Das ist auf jeden Fall psychologische Gewalt, da diese Frauen auch außerhalb der Beziehung öfter weiter verfolgt werden.
    Hier in dem Artikel wird kein Kind erwähnt. Die Beziehung war recht früh gekippt. Der Mensch kann durch Trennung sich vom Gewalttäter lösen. Emotional konnte er sich nicht trennen. Das fällt unter toxische Beziehungen und benötigt kein Männerhaus in meiner Wahrnehmung. Darüber brauchen wir mehr gesellschaftliche Aufklärung, da ich auch schon in Einer steckte und es nicht merkte. Mit dem Verweis auf toxische Beziehungen ziehe ich das Thema übrigens vom Geschlecht weg.
    Ich bin nicht gegen Männerhäuser, halte es in diesem Fall nur für ungeeignet.

  5. 9.

    Es ist leider exemplarisch, wie Sie hier zweierlei Maß angelegen: Weil eine gesellschaftliche Gruppe statistisch klar häufiger leiden muss, wird das Leid von Individuen der anderen Gruppe relativiert. Würden Sie einer Frau nach einer sexuellen Belästigung sagen, sie solle sich nicht so anstellen, weil andere Frauen ja sogar geschlagen werden? - Einem Freund von mir wurden von einer Ex-Freundin u.a. mehrfach die Reifen seines PKW zerstochen. Klar weit weniger schlimm als körperliche Gewalt, dennoch bedrohlich. Mich hat eine Ex-Freundin im Streit im Affekt getreten. Da es nur einmal vorkam, fand ich es weit weniger schlimm als sie. -- Wir müssen bei Beziehungsgewalt den Fokus weniger auf das Geschlecht als auf stattfindende Mechanismen legen: Offene und versteckte, körperliche und seelische, seltene oder regelmäßige, Ausüben und Erdulden von Gewalt... Ganz falsch ist jedoch anzudeuten, man solle aufgrund seines Geschlechts (oder z.B. seiner Herkunft) das Problem mal nicht so hoch hängen.

  6. 8.

    Selbstverständlich ist Gewalt von Frauen an Männern ein Tabuthema, weil es gesellschaftlich nicht im gleichen Maße ernst genommen wird, wie andersherum und deshalb auf Seiten der männlichen Opfer mit Scham belegt ist. Allein schon die Tatsache, dass es nicht unerhebliche Zahlen von schwerer Körperverletzung, auch mit Todesfolge gibt, beweist, dass es dort durchaus ein Problem gibt, welches gesellschaftlich und politisch nicht wirklich ernst genommen wird. Männer haben schließlich immer stark zu sein und können Frauen gar nicht unterlegen sein, so das üblich Klischee. Da man die Dunkelziffer gar nicht kennt, weiß man auch nichts über das wirkliche Ausmaß, zumal viele der Täterinnen eher psychische Gewalt anwenden, als physische. Gewalt muss immer auf gesellschaftliche Ächtung stoßen, egal in welcher Form und egal, von wem sie ausgeht und es bringt Opfern nichts, Zahlen gegeneinander abzuwägen. Das macht das Leiden des/der Einzelnen nicht geringer.

  7. 7.

    Tabu? Seh ich nicht. Es ist halt nicht wichtig genug und wenn ich diese Geschichte hier sehe und mich an die Geschichten erinnere, die Frauen erleben müssen, dann ist das sehr unausgeglichen. Er konnte sich in eine offene Psychiatrie einweisen, dazu haben Frauen meist nicht die Möglichkeit.
    Frauenhäuser werden zumeist für Frauen mit Kindern gebraucht, die sich vor ihrem Partner verstecken müssen. Verstecken!
    Wir sollten mehr über toxische Beziehungen reden, dann hätte der im Beitrag aufgeführte Betroffene womöglich auch schneller realisiert was los ist und sich womöglich auch schneller aus der Beziehung herausgezogen.
    Auch Männergefühle sollten mehr in den Fokus gerückt werden, denn die sind wirklich ein Tabuthema (insbesondere für Männer).

  8. 6.

    Das geht nicht aus der Kriminalstatistik hervor, aber auch bei den Tatverdächtigen ist das Verhältnis ungefähr 20/80.
    "Im Jahr 2021 wurden 118.148 Tatverdächtige bei vollendeten und versuchten Delikten der Partnerschaftsgewalt erfasst, davon 78,8 % männlich 93.148) und 21,2 % weiblich (25.000)" sagt die Kriminalstatistik.

  9. 5.

    Eines würde mich in dem Beitrag noch interessieren, um das Ganze besser einordnen zu können:
    Werden in den genannten 19% die Männer ausschließlich von Frauen geschlagen oder auch von Männern?

  10. 4.

    Ja, das will keiner hören und lesen. In solchen Fällen gilt der Mann wohl als "Weichei" oder wie wird das denn interpretiert? Ich finde es ganz schlimm, dass so etwas in unserer Gesellschaft tabu ist. Würde er sich wehren, wäre er gewalttätig... Männer schämt euch nicht, geht an die Öffentlichkeit!!!

  11. 3.

    An den "massenhaften" Kommentaren sieht man auch wie egal das Thema ist, Mann ist halt nichts wert :(

  12. 2.

    Ja, das ist das grundsätzliche Problem von Statistik. Hier werden Mittelwerte oder Häufigkeiten abgebildet, aber keine Einzelschicksale.

  13. 1.

    Das grundsätzliche Problem scheint mir die Totalität des Rückschlusses zu sein: Weil tatsächlich viermal so viel Frauen häusliche Gewalt erfahren wie Männer, wird gesellschaftlich der Schluss gezogen, dass ausschließlich Frauen, nicht aber Männer Opfer von Gewalt sein können.

    Immer steht ein einzelner Mensch da - gleich der Zugehörigkeit und Wahrscheinlichkeit der Betroffenheit einer Gruppe. Alle weiteren Wahrscheinlichkeiten sind für den Hintergrund da, für die Schwerpunktsetzung bei politischem Handeln, nicht aber individuell.

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