Interview | Funktionaler Analphabetismus - "Rückblickend betrachtet habe ich mich jahrelang umsonst geschämt"

Fr 08.09.23 | 09:18 Uhr | Von Alexander Goligowski
  4
Symbolbild: Die Kursleiterin und Lernende mit Lese-Schreib-Schwierigkeiten in einem Kurs vom Verein AOB Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe. (Quelle: dpa/J. Kalaene)
Audio: Antenne Brandenburg | 08.09.2023 | Bild: dpa/J. Kalaene

Tina Fidan konnte über 40 Jahre ihres Lebens nicht richtig lesen und schreiben. Heute ist sie froh, sich als Erwachsene ihrer größten Schwäche gestellt zu haben. Im Interview erzählt sie von Scham, Mut und Glücksgefühlen bei alltäglichen Situationen.

Funktionale Analphabeten nennt man Menschen, die zwar Buchstaben kennen und einzelne Wörter lesen können. Den Sinn von Texten können sie aber nur schwer oder gar nicht erfassen, weil sie mehr damit beschäftigt sind, die Buchstabenkombinationen zu entziffern. Einer Studie der Universität Hamburg zu Folge sollen in Deutschland über sechs Millionen Funktionale Analphabeten leben. Tina Fidan (59) war eine von ihnen, jetzt will sie anderen Betroffenen helfen.

Zusammen mit zwei Kollegen fährt die Berlinerin durch ganz Deutschland und macht mit dem Alfa-Mobil [alfa-mobil.de] auf Hilfsangebote aufmerksam. Einfach sei das nicht, denn Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, lebten oft ein Leben im Verborgenen.

Interview mit der funktionalen Analphabetin, Frau Fidan, beim ALFA-Mobil in Beelitz. (Quelle: rbb)
Tina Fidan (59) bei der Arbeit mit dem Alfa-Mobil | Bild: rbb

Rbb|24: Frau Fidan, vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen und uns Einblick geben in ein sehr schwieriges Kapitel Ihres Lebens. Wie geht es Ihnen heute?

Tina Fidan: Ich bin heute ganz stolz auf mich. Gestern bin ich das erste Mal alleine - ganz alleine - ohne jemanden dabei - frühstücken gewesen. Ich habe da eine halbe Stunde gesessen und der Kellner kam immer schon und fragte: "Schon fertig?" Ich meinte: "Ne, so schnell bin ich nicht." Dann habe ich mir jedes Frühstück einzeln angeguckt und gelesen, was da drin ist. Was bekomme ich für das Geld? Geworden ist es dann ein Lachsfrühstück. Lecker! Diese Situation gemeistert zu haben, war ein schönes Gefühl.

Vor 15 Jahren haben Sie den Kampf gegen Ihren Analphabetismus aufgenommen. Sind Sie zufrieden damit, wo Sie jetzt stehen?

(fragt ihre Kollegen) Bin ich noch eine funktionale Analphabetin? Nein, heute bin ich ganz anders. Texte lesen ist noch immer schwere Arbeit, aber ich kann es und das eröffnet mir Möglichkeiten, die ich vorher nie hatte - wie eben Frühstücken gehen.

Sie waren als Kind wie jedes andere in der Schule, warum haben Sie dort nicht richtig lesen und schreiben gelernt?

Ich war in der Schule, ich habe dort gelernt und ich hatte sogar Nachhilfeunterricht. Bei mir hat sich aber nix abgespeichert. Alles, was ich gelernt habe, musste ich am nächsten Tag wieder neu lernen - immer wieder von vorn. Irgendwann erscheint das sinnlos und dann sagt man sich: Nö, jetzt habe ich keine Lust mehr.

Wie haben Sie ihren Alltag bestritten, ohne wichtige Dokumente lesen und beantworten, Einkaufszettel schreiben zu können oder Straßenschilder verstehen zu können?

Gute Frage. Wie bin ich durchs Leben gekommen? Mehr so zu Hause auf der Couch. Die Decke fällt einem auf den Kopf. Man weiß nichts mit sich anzufangen. Man ist nur zu Hause und guckt fern. Man bekommt Depressionen. Man kriegt die Putzkrankheit. Ich habe nur meine Wohnung geputzt - jeden Tag immer das Gleiche. Wenn ich einkaufen gegangen bin, bin ich nur in die Läden gegangen, die meine Mutter besucht hat. Und hab nur das gekauft, was meine Mutter gekauft hat, weil ich dann wusste, was das war. Meine Mutter hat aber immer nur Konserven gekauft. Heute gehe ich auf den Markt und kaufe mir Frisches.

Sie haben sich also versteckt vor der Welt?

Das kann man so sagen. Grundkompetenzen nicht zu besitzen, die unsere Gesellschaft voraussetzt, um teilzuhaben: Da schämt man sich. Mir das vor anderen einzugestehen, das konnte ich auf keinen Fall.

Umgekehrt bedeutet es, dass viel Mut erforderlich ist, sich dann bei Fremden Hilfe zu suchen. Wie haben Sie das mit über 40 Jahren doch noch geschafft?

Ich wurde regelrecht erpresst von meiner Freundin. Die hat mir gesagt: "Hier hast du eine Telefonnummer von 'Lesen und Schreiben e.V.' [www.lesen-schreiben.com] Ruf da an und dann lernst Du da lesen und schreiben! Dann brauche ich auch nicht mehr deine Post machen." Da habe ich gesagt: "Nee, da rufe ich nicht an, auf keinen Fall." Letzten Endes hat sie dann angerufen, gleich einen Termin gemacht und zu mir gesagt: "Wenn Du da morgen früh nicht hingehst, dann ist unsere Freundschaft aus."

Ich hatte den Mut nicht und es war mir peinlich. Ich brauchte diesen Schubs, um mein Leben in die Hand zu nehmen

Tina Fidan über den schwierigen Weg zur Hilfe

Wie ging es Ihnen damit?

Ich dachte: "Oh, Du Miststück!" (lacht) Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt nur diese eine Freundin. Die wollte ich nicht verlieren und bin deswegen dahin gegangen.

Würden Sie Ihre Freundin heute auch noch als Miststück bezeichnen?

Leider ist sie vor einigen Jahren gestorben. Heute bin ich ihr unendlich dankbar, dass sie mich gezwungen hat. Ich wäre nicht von allein zu dem Verein gegangen. Ich hatte den Mut nicht und es war mir peinlich. Ich brauchte diesen Schubs, um mein Leben in die Hand zu nehmen.

Warum ging es später besser?

Bei "Lesen und Schreiben e.V." in Berlin, wo ich mir Hilfe suchte, ist man sehr individuell auf mich eingegangen. Das ist wichtig, weil jeder Betroffene andere Hintergründe und Defizite hat, die dazu führten, dass man funktionaler Analphabet wird. Die einen fangen wirklich mit der Fibel ganz von vorn an. Andere bekommen Techniken, um den Inhalt schwieriger Texte zu verstehen.

Es hat auch was mit Psychologie zu tun. Manchmal müssen erst schlechte Kindheitserfahrungen aufgearbeitet werden. Bei mir hat das Lernen, was als Kind nicht funktionierte, als Erwachsene plötzlich geklappt. Ich sage immer: Meine Synapsen haben sich jetzt verknüpft. (lacht) Es verfestigt sich jetzt.

Heute versuchen Sie, anderen Mut zu machen. Wie sieht Ihre Arbeit beim Alfa-Mobil aus?

Rückblickend betrachtet habe ich mich jahrelang umsonst geschämt. Wenn man sich an der richtigen Stelle Hilfe sucht, dann wird einem mit viel Verständnis und auf Augenhöhe begegnet. Beim Alfa-Mobil ist meine Aufgabe, den Eisbrecher zu spielen und den Leuten zu zeigen, dass es sich lohnt, vorhandene Chancen zu ergreifen. Wo man Hilfe findet, erfährt man bei uns.

Wollen Sie anderen Betroffenen noch etwas mit auf den Weg geben?

Leute, kriegt den Arsch hoch! Habt Mut! Und nehmt Euch einen Vertrauten mit, wenn Ihr zu den Hilfsangeboten zum Beispiel in den Grundbildungszentren der Volkshochschulen geht! Dann ist es leichter. Es lohnt sich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Alexander Goligowski für rbb|24.

Sendung: Antenne Brandenburg, 06.09.2023, 16:42 Uhr

Beitrag von Alexander Goligowski

4 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 4.

    Einfach im Bild auf das Symbol unten in der Ecke klicken, dann wird die Originalstimme abgespielt.

  2. 3.

    Liebes rbb-Team,

    gibt es vielleicht die Möglichkeit das Interview auch als Hörversion zu machen? Es geht ja schließlich um funktionalen Analphabetismus und Personen, die es betrifft haben evtl Schwierigkeiten sich durch dieses Interview in Textform zu lesen. Es wäre bestimmt hilfreich genau die Zielgruppe zu erreichen, in dem man dann auch das entsprechende Medium mit zur Verfügung stellt.

    Vielen Dank & Viele Grüße
    Mit hören

  3. 2.

    Es wäre schön, die Person in ihrer Sprache zu hören. Hier klingt es umformuliert und wie aus dem Lehrbuch abgedruckt. Wenn umformuliert worden sein sollte, wäre es gut, das als Anmerkung hinzuzufügen.

  4. 1.

    Ein sehr schöner Artikel über den "Lesen und Schreiben" e.V. Da trifft jeder auf sehr kompetente Leute, die helfen. Das einzigste was notwendig ist, den Schritt dorthin und durch die Tür gehen; nicht nur einmal, sondern auch das zweite und das dritte Mal. Es wird zunehmend leichter, dorthin zu gehen. Man muss sich nur aufraffen und -- durchziehen.
    Damit es gar nicht soweit kommt, denn spät lernen ist immer noch schwieriger, als gleich in der Schule mitzumachen... Es ist wie es immer ist, wer sich versteckt, organisiert sich zunehmend die und in die Schwierigkeiten hinein. In diesen Septembertagen begeht D den Alphabetiisierungstag. Mit Mut von der einen und Takraft / Elan von der anderen Seite. Jetz mit Verstärkung durch Tina Fidan, - eine schöne Geschichte! der Verein hat sein Gebäude in Neukölln, nähe U-Bahn-Station Karl-Marx-Str. Hinfahren, aussteigen und auf ein Gelbes Schild achten. Es ist ganz einfach!

Nächster Artikel