Interview | Psychologin zur Krisensituation - "Viele ringen derzeit mit dem Gefühl der Ohnmacht"
Viele Menschen fühlen sich angesichts zahlreicher Krisen derzeit erschöpft und überfordert. Und dann zieht bei grauem Wettereinerlei auch noch der triste Winter heran. Psychologin Stefanie Kunz verrät, was hilft.
rbb|24: Hallo Frau Kunz. Das Licht geht, der November naht und die Welt versinkt nicht nur in Grau, sondern auch in Krisen. Sorgt die derzeitige Situation auch für mehr persönliche Krisen bei den Menschen?
Stefanie Kunz: Ich kann da vor allem für die Menschen sprechen, die ich in meinen Kursen und Beratungen treffe. Und da handelt es sich natürlich um Menschen, die sowieso kommen, weil sie mit irgendetwas zu kämpfen haben. Aber das, was gerade in der Welt passiert, hat natürlich Einfluss auf sie.
Ich habe gerade in den letzten Wochen gemerkt, dass viele diese zusätzliche Krise in Nahost wirklich noch einmal mehr beschäftigt. Damit haben ja alle zu kämpfen. Viele ringen derzeit mit dem Gefühl der Ohnmacht. Zu sehen, dass so viel Schwieriges passiert in der Welt im Moment und man eigentlich nichts machen kann, ist schwer. Viele Menschen sind erschöpft und überfordert.
Wer ist besonders betroffen? Menschen, die ohnehin vorbelastet sind?
Ich bin nicht sicher, ob ich das so allgemein beantworten kann. Vorbelastet heißt ja nicht, dass es sich um andere Menschen als alle anderen handelt. Viele kommen auch zu mir, weil sie beispielsweise ein Problem im Job haben und dafür Beratung brauchen. Das heißt noch lange nicht, dass sie psychisch erkrankt sind. Zu mir kommen, bis auf Patienten mit Burnout, wenige Menschen mit einer manifesten psychischen Erkrankung. Aber je weniger Ressourcen jemand hat, umso weniger ist er oder sie in der Lage, Extra-Belastungen zu bewältigen. Und mit Ressourcen meine ich einerseits psychische Ressourcen wie Resilienz, andererseits aber auch materielle und kräftemäßige. Da kommt alles zusammen.
Ist die anstehende Zeitumstellung da noch eine zusätzliche Bürde?
Meine persönliche Meinung ist, dass die Zeitumstellung immer eine Belastung ist. So eine Rhythmusumstellung ist insbesondere für Familien mit kleinen Kindern sehr anstrengend. Oftmals haben sie gerade mal einen passenden Rhythmus gefunden und dann ändert sich wieder alles.
Was sind hilfreiche Strategien gegen Gefühle der Verzweiflung?
Die Strategien sind sehr individuell. Aber es gibt ein paar, das wissen wir aus der Forschung, die für alle hilfreich sind. Zum Beispiel, sich mit anderen zu verbinden. Eine Krise also nicht alleine zu tragen, sondern sich auf seine persönlichen und beruflichen Beziehungen zu besinnen und mit diesen Menschen über das, was passiert, zu reden. Sodass das Gefühl entsteht, nicht allein zu sein damit. Das ist die Hauptressource, die uns allen zur Verfügung steht.
Ansonsten kann man sich persönlich fragen, was man braucht, um in einen guten Zustand zu kommen. Das zu wissen, trägt in so einer Situation besonders. Körperliche Bewegung zum Beispiel ist immer hilfreich. Bei Depressionen, Ängsten, Ohnmachtsgefühlen oder auch bei schlicht schlechter Stimmung. Achtsamkeit, Meditation und Yoga sind auch gute Möglichkeiten, das kann ich als Achtsamkeitslehrerin sagen. Mit deren Hilfe kann man die Ängste gut wahrnehmen, ohne sich so ganz gefangen nehmen zu lassen. So kann man ein Stück Abstand nehmen.
Was auch hilft, ist zu schauen, wo man selbst einen kleinen Beitrag leisten kann. Da geht es um die Dinge, die man selbst tun kann, um irgendetwas zu verändern. Das hilft gegen das Gefühl der Ohnmacht.
Was können Angehörige, Freunde oder Kollegen tun, wenn sie merken, jemand versinkt in traurigen Gedanken?
Sie können für denjenigen da sein und spiegeln, was man am anderen wahrnimmt. Dass man das Gefühl hat, derjenige brauche Hilfe. Man kann den Betroffenen gut zuhören und möglichst nicht mit Lösungsvorschlägen oder Allgemeinplätzen wie "alles wird wieder gut" kommen. Am wichtigsten wäre es, die Person zu fragen, was sie in diesem Moment braucht und was ihr helfen würde.
Ab wann sollte man zum Arzt? Also wann wird aus einem Blues eine Depression?
Wenn man beispielsweise merkt, dass man nicht gut schlafen kann. Oder dass der ganze Tag wie ein Berg vor einem liegt. Wenn also der Antrieb total nachlässt und einem auch Sachen, die einem sonst immer Freude gemacht haben, plötzlich egal sind und man sich kraftlos fühlt. Wenn also alles ein bisschen in einem Grau versinkt. Wenn das alles zusammenkommt, ist das der Moment, in dem man sich Hilfe suchen sollte.
Was wäre jetzt das Wichtigste in der aktuellen Situation?
Wichtig ist, nicht zwischen krank und gesund zu unterscheiden, sondern zu sehen, dass wir bei dieser schwierigen Weltlage alle in einer herausfordernden Situation sind. Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen.
Wir sollten andere Meinungen tolerieren und nicht in die Abwertung gehen und Menschen ausschließen. Ohnmacht führt häufig dazu, dass die Betroffenen sich Ausweichstrategien wie Aktionismus, Macht oder Abwertung suchen, um die Ohnmacht nicht mehr zu spüren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24