Berliner Wassernetz - "Wir hatten um die Wende circa drei Mal mehr Rohrbrüche als heute"

Do 30.05.24 | 11:36 Uhr | Von Jonas Wintermantel
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Archivbild: Erneuerung des Trinkwassernetzes durch die Berliner Wasserbetriebe in der Fennstraße in Berlin. (Quelle: imago images/STPP)
Bild: imago images/STPP

Der spektakuläre Wasserrohrbruch an der Sonnenallee wirft Fragen nach dem Zustand des Berliner Wassernetzes auf. Dabei stehe die Hauptstadt eigentlich ziemlich gut da, sagt Stephan Natz von den Berliner Wasserbetrieben. Von Jonas Wintermantel

Wer die Bilder des Wasserrohrbruchs an der Sonnenallee vom Dienstag sieht, könnte meinen, eine Flutkatastrophe hätte Neukölln heimgesucht. Aus dem Boden schießen Tausende Liter Wasser an die Oberfläche, Minuten später ist aus der Kreuzung an der Sonnenallee / Ecke Braunschweiger Straße ein kleiner See geworden.

Die Bilder haben selbst Stephan Natz, Pressesprecher bei den Berliner Wasserbetriebe (BWB), kurz aufschrecken lassen. Dabei weiß er, dass Rohrbrüche in Berlin wie in jeder anderen Großstadt an der Tagesordnung sind. Und er weiß, dass spektakuläre Bilder von einer überschwemmten Neuköllner Sonnenallee sein Telefon heiß laufen lassen werden. Und, dass er in den kommenden Stunden und Tagen in unterschiedlichen Ausformungen folgende Frage beantworten muss:

"Wie marode ist eigentlich das Berliner Trinkwassernetz?"

Über 500 Rohrbrüche im Jahr

"Aus unserer Sicht ist das Ding nicht mal spektakulär", sagt Natz, "spektakulär sind aber vor allem die Bilder. Es gibt immer wieder spektakuläre Rohrbrüche, meistens nimmt davon aber niemand Notiz."

Über 500 Mal im Jahr kommt es laut BWB in Berlin zu einem Rohrbruch im Trinkwassernetz. In diesen Fällen rückt dann der Entstörungsdienst der Wasserbetriebe aus. So ist es auch am Dienstagmorgen. Um 6:21 geht in der Funkleitstelle der BWB die Meldung von massivem Wasseraustritt an der Sonnenallee ein. Ungefähr 40 Minuten später - um kurz nach 7:00 Uhr - fließt kein Wasser mehr.

Im riesigen Berliner Rohrnetz sind alle paar Meter unterirdische Armaturen angebracht, sogenannte "Schieber", oder auch "unterirdische Wasserhähne", wie Natz es verständlich auszudrücken versucht. Damit könne ein beschädigter Abschnitt einer Leitung vom Rest des Netzes isoliert werden, indem dort von beiden Seiten der Zufluss abgedreht wird. Diese "Schieber" sind von der Oberfläche aus zu bedienen. "Die Hauptaufgabe heißt erstmal: Schaden abwenden", sagt Natz.

Danach müsse entschieden werden, wie mit dem Schaden weiter umzugehen sei. In manchen Fällen könnten Schäden an Rohren punktuell repariert werden, in anderen Fällen lohne es sich aber mehr, ein längeres Teilstück komplett auszuwechseln. "So machen wir aus dem Schaden eine Investition", sagt Natz. So wurde es auch im Falle des Rohrs an der Sonnenallee entschieden. Die Leitung hier stammt aus dem Jahr 1908. Rund 40 Meter Leitung würden nun ausgetauscht, auch zwei Bäume müssten dafür gefällt werden. Natz geht von einer vierwöchigen Baustelle aus. Die Arbeiten übernimmt eine Baufirma im Auftrag der BWB.

Ein riesiger Flickenteppich unter Berlin

Fast 8.000 Kilometer Trinkwasserleitungen liegen unter den Füßen der Berlinerinnen und Berliner. "Die Flächenkonkurrenz ist teils sehr groß", sagt Natz. Er meint damit die Vielzahl unterschiedlicher Leitungen unter dem Asphalt. Direkt unter der Oberfläche finden sich vor allem Telekommunikations- und Internetkabel, erst darunter stößt man auf die Frischwasserleitungen. Noch ein Stück tiefer - etwa vier Meter unter dem Boden - finden sich dann die Abwasser-Kanäle.

Das Trinkwassernetz ist ein riesiger Flickenteppich. In einer einzigen Straße könnten etwa 20 Meter Leitungen aus der Kaiserzeit, danach 40 Meter aus den 2010er-Jahren und danach ein paar Meter aus der Nachkriegszeit liegen, sagt Natz. Das Durchschnittsalter eines Berliner Trinkwasserrohrs liegt bei ungefähr 58 Jahren. So unterschiedlich wie ihr Geburtsjahr ist auch das Baumaterial der Rohre. Manche bestehen aus Stahl oder Grauguss, andere aus Faserzement, wieder andere aus Kunststoffen.

Die langlebigsten Wasserrohre unter Berlin bestehen aus Grauguss - einer Art Gusseisen. Damit wurde schon in der Anfangszeit der Berliner Wasserversorgung vor ungefähr 160 Jahren gebaut. Einige der Rohre aus dieser Zeit bestehen noch immer - zum Beispiel das älteste bekannte Wasserrohr unter der Mühlenstraße in Friedrichshain.

"State of the Art" in Sachen Rohrmaterial ist seit den 1970er-Jahren das sogenannte "duktile Gussrohr". "Duktil" bedeutet "dehnbar". Duktiles Gusseisen ist ein plastisch verformbarer Werkstoff, der widerstandsfähiger ist als herkömmliches Gusseisen. Neue Leitungen aus duktilem Gussrohr sollen mindestens 100 Jahre halten.

Warum bricht ein Rohr?

Warum ein Rohr bricht, das erklärt der BWB-Sprecher mit dem Bild eines "Schweizer Käses". "Grauguss ist wunderschön und hält ewig, wenn es nicht bewegt wird", sagt Natz. Über die Jahre und Jahrzehnte sei immer wieder im Boden gegraben worden, neue Leitungen seien verlegt worden, außerdem sei das Verkehrsaufkommen an der Oberfläche immer weiter gestiegen. Und auch wenn der Boden - oder besser gesagt die "mit Wasser gesättigte Sandschicht" gefriert, käme Bewegung in den Boden, die die Leitungen strapaziert.

Natz' Lieblingsbeispiel ist die Landsberger Allee. Auf einer Länge von zwei Kilometern werden dort bis 2029 die alten Wasserleitungen erneuert - sie sind zwischen 90 und über 120 Jahre alt. "Die Landsberger Allee war im Verlegejahr der Leitung ein Feldweg, heute ist es eine Magistrale bis nach Polen mit irren Verkehrslasten." Selbst für eine Leitung aus Grauguss ist so viel Bewegung auf und unter der Oberfläche irgendwann zu viel.

Wie steht Berlin im Vergleich da?

Stephan Natz möchte sich des Eindrucks erwehren, das Berliner Wasserrohrnetz sei in einem schlechten oder gar "maroden" Zustand. Auch, was die Zahl der Rohrbrüche angeht. "Wir sprechen von einem historischen Tiefstand", sagt Natz. "Wir hatten um die Wende circa drei Mal mehr Rohrbrüche als heute. Seither haben wir es durch Investitionen und Instandhaltung geschafft, diese Zahl ungefähr zu dritteln."

Und auch im internationalen oder deutschlandweiten Vergleich müsse sich Berlin laut Natz nicht verstecken. Er verweist dabei unter anderem auf die Daten zu den Netzverlusten - die Berliner Wasserbetriebe messen einserseits, wie viel Wasser nach der Aufbereitung ins Netz gepumpt wird und andererseits, wie viel Wasser in den Wasserzählern der Endverbraucher angekommen ist.

Aus der Differenz dieser beiden Zahlen ergibt sich der Wasserverlust, der etwa durch Rohrbrüche oder undichte Leitungen entstehen kann. "Die Verluste im Rohrnetz liegen in Berlin bei knapp drei Prozent, die Benchmark in Deutschland liegt höher - nämlich zwischen 7 und 8 Prozent - in Frankreich und England sogar teilweise bei 20 Prozent", sagt Natz. Ein optimales Netz könne es nie geben. Aber auf dieses Niveau sei man bei den Berliner Wasserbetrieben "stolz wie Bolle".

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.05.2024, 16:20

Beitrag von Jonas Wintermantel

9 Kommentare

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  1. 9.

    Die im Beitrag erwähnte bessere Widerstandsfähigkeit der aus speziell legierten Graugussrohren gegenüber Stahlrohren erstaunt mich als polytechnisch (un-)gebildetem Mitbürger etwas. Aber wenn es so ist, habe ich wieder was gelernt. Danke rbb.

  2. 8.

    Kleiner Hinweis für den Cottbuser.
    Berlin war vor der Wende getrennt!
    Mit allen Konsequenzen, ergo unter anderem auch mit den Wasserbetrieben. Verstanden?

  3. 7.

    Hochkomplexe Netze zu betreiben und instand zu halten, große Aufgabe, Respekt!!! Störungen sind m.E. völlig normal.

  4. 6.

    Wiedervereinigung einer geteilten Stadt mit bis dahin wohl auch weitgehend geteilter Wasserversorgung und Abwasserentsorgung.
    Sinnvoll diesen Zeitpunkt als Meilenstein in diversen Statistiken zu nutzen.

  5. 5.

    Diese 3 % dürften außerdem in erster Linie auf unentdeckte kleinere Lecks zurückzuführen sein, die nunmal unvermeidlich sind.

  6. 4.

    Ich schließe mich an - vielen Dank für den gut recherchierten, tiefgehenden Artikel! Ich habe viel gelernt.

  7. 3.

    Interessanter Artikel.Aber was haben die Rohrbrüche mit der Wende tu tun?

  8. 2.

    Danke für den aufschlussreichen Artikel und an die anständigen Berliner, da
    "Die Verluste im Rohrnetz liegen in Berlin bei knapp drei Prozent"
    und so offenbar kaum schon vor dem Zähler entnommen wird :)

  9. 1.

    ist ja echt mal ein hochinteressanter Artikel. Diesmal wird nicht gemeckert...

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