#Wiegehtesuns? | Die Hartz-IV-Bezieherin - "Mich ärgert, dass so umfassend nach dem Gießkannenprinzip verfahren wird"

Di 18.10.22 | 06:06 Uhr
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Friederike Böttcher. (Quelle: rbb)
Video: rbb24 Abendschau | 02.01.2023 | Frank Drescher | Bild: rbb

Mit den steigenden Preisen wachsen auch die Sorgen von Friederike Böttcher. Die Hartz-IV-Bezieherin hat am Monatsende regelmäßig ein dickes Minus auf dem Konto. Sie wünscht sich mehr Gerechtigkeit bei den Hilfen. Dafür geht sie auch auf die Straße. Ein Gesprächsprotokoll

Zu den Protesten gegen steigende Preise und Energiekosten veranstaltet das rbb-Fernsehen eine Diskussionsrunde "Wir müssen reden", Dienstag, 18.10. um 20:15 Uhr

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Friederike Böttcher bezieht seit zwölf Jahren Hartz IV. Ihren Job als Erzieherin musste sie damals aufgeben, weil sie schwere Rückenprobleme hat. Wegen der Inflation muss sie jetzt jeden Euro zweimal umdrehen - und setzt sich für mehr Umverteilung ein.

“Mir fehlt ein Gelenk an der Wirbelsäule und ich habe einen Lendenwirbel zu viel. Je älter ich werde, desto gravierender wird das im Alltag, so dass ich nur sechs Stunden am Stück auf sein kann. Vor Corona habe ich einen Bundesfreiwilligendienst gemacht, das fehlt mir jetzt – oder der Ein-Euro-Job oder sogar das Bewerbungstraining. Alles, wo man nur die Monatskarte für die BVG bekommt, das war mir schon oft eine notwendige Hilfe.

Ich muss mich jeden Tag entscheiden, ob ich mir von meinem knappen Geld Gemüse kaufe oder Medikamente. Vorgestern habe ich für 8,50 Euro ein nicht rezeptpflichtiges Medikament gekauft. Das war das letzte Mal, dass ich mich auf so etwas einlasse.

Vor Corona hatte ich immer noch so Luft von 20 Euro im Monat. Mittlerweile würde ich sagen, dass mir 70, 80 Euro fehlen, um alles Notwendige bezahlen zu können. Und da ist die letzte Strompreiserhöhung noch nicht dabei. Ich habe mich auch schon mal monatelang von Brennnesseln ernährt, sie zu Spinat gekocht, weil ich das Geld für Gemüse nicht hatte.

Der Regelsatz für Hartz IV ist um drei Euro angehoben worden, aber das reicht bei Weitem nicht mehr. Prozentual müssen wir Hartz-IV-Betroffene einfach sehr viel für Essen ausgeben. Der Warenkorb für Hartz-IV-Betroffene ist ein ganz anderer als der für die Durchschnittsbevölkerung oder Wohlhabende. Wenn wir 449 Euro haben, sind davon ungefähr 150 Euro für Lebensmittel und Getränke eingeplant.

Mich ärgert, dass die Regelsätze nicht an die Inflation angepasst werden. Ich finde es eine Katastrophe, dass so umfassend nach dem Gießkannenprinzip verfahren wird. Auch der Milliardär und der Multimillionär bekommen Gelder aus den Hilfspaketen. Da wird nicht differenziert zwischen denen, die es gar nicht brauchen und denen, die sich wirklich im Schlamassel befinden. Und es regt mich auf, dass die Vermögenssteuer nicht wieder eingeführt wird, die wir gerade jetzt dringend bräuchten. Die ist im Grundgesetz vorgesehen – und sie ruht seit 1996.

Ich gehe zu jeder Demo, bei der ich nur einigermaßen mit den Aussagen übereinstimme. Und ich mache mit bei attac, in der Gruppe Finanzmärkte und Steuern. [attac: globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation, d.Red.]

Außerdem nutze ich jede Gelegenheit, persönlichen Kontakt mit Politikern herzustellen – weil wir ja nicht voneinander wissen. Ich selbst weiß ja auch nicht, wie ein Christian Lindner sich abends um 21 Uhr fühlt. Und er weiß es von mir umgekehrt auch nicht. Also gehe ich in Bürgersprechstunden meiner Abgeordneten und versuche, so plastisch wie möglich meine Situation zu schildern. Um klarzumachen, wie misslich die Lage derer ist, die mit mir von Hartz IV betroffen sind.

Ich bin mit grundlegenden Dingen in diesem politischen System nicht zufrieden. Allerdings sehe ich schon, dass Politiker mehr umsetzen wollen als sie können. Ich sehe ja, was die am Wickel haben. Die sind im Moment auch ganz schön überlastet."

Gesprächsprotokoll: Anna Hanke

Sendung: Inforadio, 18.10.2022

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