Ukraine-Geflüchtete in Tegel - "Wir hoffen jeden Freitag, dass wir übers Wochenende kommen"
Im ehemaligen Flughafen Tegel reihen sich die Doppelstockbetten: Rund 3.400 Kriegsgeflohene und Asylbewerber harren in den Hallen aus. Tendenz steigend. Nun müssen Nothallen für Tausende weitere Menschen her. Von Roberto Jurkschat
- Weil die landeseigenen Unterkünfte für Geflüchtete in Berlin voll sind, können aus den Notunterkünften in Tegel und Reinickendorf kaum noch Menschen ausziehen
- Inzwischen müssen Geflüchtete deshalb wochenlang in Tegel leben
- Der lange Aufenthalt und die räumliche Enge führen laut Mitarbeitenden zunehmend zu Spannungen zwischen den Menschen im Ankunftszentrum
- Neben 2.400 Geflüchteten aus der Ukraine warten in Tegel inzwischen auch 1.000 Asylbewerber aus anderen Ländern auf eine Unterbringung
Ein gelber Bus der BVG öffnet die Hintertür vor dem früheren Flughafen in Berlin-Tegel, Menschen mit Rucksäcken und Einkaufstaschen stapfen durch den Nieselregen zum Eingang am Terminal C. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind hier an manchen Tagen mehrere Tausend Kriegsflüchtlinge vor dem Ukraine-Ankunftszentrum aus den Shuttlebussen ausgestiegen. Inzwischen kommen hier viel weniger Menschen an, der Fahrplan der Shuttlebusse ist ausgedünnt.
Entspannt hat sich die Lage in Tegel aber seitdem nicht. Im Gegenteil. Denn die Einrichtungen des Landes Berlin für Geflüchtete aus der Ukraine sind an ihre Kapazitätsgrenzen geraten. Auf dem freien Markt geht ohnehin so gut wie nichts und die Bereitschaft und Möglichkeit, privaten Wohnraum in Berlin zur Verfügung zu stellen, ist über ihren Zenit hinaus.
Verlegungen in andere Unterkünfte kaum mehr möglich
Das größte Problem allerdings ist die Vermittlung in reguläre Unterkünfte des Landessamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF): 29.000 Plätze waren Ende November verfügbar, so viele wie nie seit der Gründung des LAF im Jahr 2016. Doch selbst von diesen Plätzen sind 99,5 Prozent belegt, lediglich 143 Betten waren frei. Deshalb ist die Verlegung aus den Notunterkünften in Tegel und Reinickendorf fast zum Erliegen gekommen: "In den letzten Tagen haben wir manchmal niemanden, manchmal zwei oder vier Personen aus Tegel verlegt", sagt LAF-Sprecherin Monika Hebbinghaus im Gespräch mit rbb|24.
So müssen die früheren Terminals immer mehr Menschen aufnehmen. Am vergangenen Sonntag waren in Tegel insgesamt 3.400 Plätze belegt, nur 240 Betten waren frei - bei rund 100 Ankommenden pro Tag. Weil kaum jemand auszieht hat sich die Aufenthaltsdauer nach Angaben des LAF verzehnfacht, von zwei Tagen im März auf mittlerweile zwei bis drei Wochen, die die Menschen hier verbringen müssen. Beim Landesamt ist die Sorge groß, dass Tegel die Situation bald nicht mehr stemmen kann. "Wir hoffen jeden Freitag, dass wir übers Wochenende kommen", sagt Hebbinghaus.
Auch Asylsuchende kommen in Tegel unter
Weil das LAF auch anderen Asylbewerbern eine Unterkunft bieten muss, werden im Ankunftszentrum inzwischen auch Geflüchtete anderer Länder untergebracht, die im Winter von Obdachlosigkeit bedroht wären. In Tegel warten 2.400 Menschen aus der Ukraine im Terminal C und in den Leichtbauhallen hinter dem Gebäude auf eine Vermittlung. In den Terminals A und B sind inzwischen rund 1.000 weitere Menschen aus Georgien, Moldau, nordafrikanischen Staaten, Syrien oder Afghanistan hinzugekommen.
Bislang besteht für die Terminals A und B aber nur eine Nutzungserlaubnis bis Jahresende. Dann sollen diese Bereiche für den Einzug der Beuth-Hochschule umgebaut werden. Wenn die Terminals auch im Januar noch Notunterkünfte bleiben sollen, muss das Abgeordnetenhaus zustimmen.
Notunterkünfte mit wenig Privatsphäre
Die Betriebsleiterin des Ankunftszentrums, Kleopatra Tümmler, sagt im Gespräch mit rbb|24, Tegel sei für wochenlange Aufenthalte nicht vorgesehen. "Die Idee ist eigentlich, dass die Menschen hier für wenige Tage sind", sagt Tümmler. Privatsphäre hätten die Menschen in den Terminals und den Zeltbauten nicht, es fehlten Rückzugsorte, zwischen den Doppelstockbetten gibt es keine Türen. Wochenlanges Ausharren, räumliche Enge und die Erfahrungen der Geflüchteten mit dem Krieg führten dazu, dass "Spannungen und Streitigkeiten" deutlich häufiger auftreten, so Tümmler.
Das Deutsche Rote Kreuz, die Malteser, die Johanniter und der Arbeiter-Samariter-Bund bieten deshalb Beratungsgespräche, Kinderbetreuung und ein Skateprojekt für Jugendliche an. Demnächst soll es in Tegel auch Musikprojekte und Möglichkeiten zum Homeschooling geben. Auf Dauer braucht Berlin nach Auffassung von Kleopatra Tümmler allerdings deutlich mehr Plätze in regulären Unterkünften, wo die Menschen nach der Flucht zur Ruhe kommen und wo sie sich selbst um Essen und einen Deutschkurs kümmern können.
Viele Optionen ausgeschöpft
Die Senatsverwaltung für Integration hat seit Beginn des Krieges in der Ukraine unter anderem auf die Akquise von Hotelzimmern und auf ungenutzte landeseigene Gebäude gesetzt. Diese Möglichkeiten sind nun annäherend ausgereizt, wie ein Sprecher der Verwaltung rbb|24 sagte. Auch die Zuweisung von Ukraine-Geflüchteten über das im März bundesweit eingeführte FREE-System in andere Bundesländer sei derzeit nicht möglich, denn Berlin liegt hier nicht über der vorgeschriebenen Aufnahmequote.
Im Winter, so befürchtet die Verwaltung, könnte das Fluchtgeschehen sich noch einmal verstärken: In der Ukraine leben viele Menschen in schwer beschädigten Häusern, zum Teil ohne Heizung und Strom. Deshalb stockt der Senat in Tegel und in Tempelhof auf: Hinter dem Terminal C entstehen derzeit schon weitere Leichtbauhallen. Darin soll es laut LAF bis Weihnachten Schlafplätzen für weitere 3.200 Menschen geben.
Großer Platzbedarf bis Jahresende
Auch in den Hangars 1 und 2 im Flughafen Tempelhof sollen erstmals seit Jahren wieder Unterkünfte eingerichtet werden, in den Hallen sollen bald 800 bis 900 Menschen in Wohncontainern unterkommen können. "Das reduziert die Lärmbelästigung und erhöht die Privatsphäre der Geflüchteten", erklärte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Integration. Demnach sind auf den Parkplätzen vor dem früheren Flughafen zudem weitere Zeltbauten geplant. Ob das ausreicht, ist ungewiss: Selbst die Vewaltung geht nach eigenen Angaben von einem Bedarf von bis zu 10.000 zusätzlichen Plätzen bis Jahresende aus.
Der künftige Platzbedarf von Ukraine-Geflüchteten, die kurz nach dem russischen Überfall in Wohnungen von Freunden, Verwandten oder privaten Vermietern in Berlin untergekommen sind, lässt sich nur schwer berechnen: Um wie viele Menschen es sich handelt, kann niemand genau sagen, weil Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine visafrei in Europa reisen dürfen. Beim Berliner Landesamt für Einwanderung (LEA) wurden bis zum 13. November allerdings Aufenthaltstitel für rund 86.000 Menschen aus der Ukraine beantragt.
Tegel-Betriebsleiterin Tümmler bestätigte rbb|24, dass zuletzt einige Menschen in das Ankunftszentrum gekommen sind, die vorher in Privatwohnungen in Berlin gelebt haben.2 "Einige Menschen kamen dann zu uns, weil die Wohnverhältnisse auf Dauer recht eng waren, weil sie sich mehr Selbständigkeit wünschen und sich nicht aufdrängen wollen", so Tümmler.
Aus Gesprächen mit den Geflüchteten lerne sie viel über die Schicksale der Menschen, die ihre Heimat in der Ukraine bisher nicht verlassen haben. "Viele berichten, dass ihre Freunde in ihrer Heimat bald nicht mehr wohnen können. Es gibt keine Heizung mehr, es gibt zum Teil keine Fenster mehr und keinen Strom mehr in dem Land." Viele Menschen in der Ukraine wüssten nicht, wie viele Blackouts sie es in der Heimat noch aushielten. Deshalb blickt Tümmler mit Sorge auf die kommenden Wintermonate.
LAF-Sprecherin Monika Hebbinghaus versichert, dass die Mitarbeiter:innen der Behörde sich nach Kräften bemühten, weitere Möglichkeiten zur Unterbringung zu finden. Bloß was passiert, wenn Berlin trotzdem keine Betten mehr hat? "Dann werden wir kurzfristig andere Lösungen finden", sagt Hebbinghaus.
Sendung: rbb24 Abendschau, 08.12.2022, 19:30 Uhr