Berliner Sozialämter überlastet - "Wir sind einfach am Limit"

Di 05.03.24 | 06:12 Uhr | Von Sylvia Tiegs
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Archivbild: Warteschlange vor dem Rathaus Steglitz-Zehlendorf. (Quelle: rbb)
Audio: Inforadio | 05.03.2024 | Sylvia Tiegs | Bild: rbb

Wem die Rente nicht zum Leben reicht, der kann Grundsicherung beantragen – bekommen tut er sie in Berlin aber zumeist erst Monate später. Grund ist die sehr angespannte Personallage in den Sozialämtern. Von Sylvia Tiegs

  • Bis zu 25 Prozent der Stellen in den Berliner Sozialämtern sind dauerhaft nicht besetzt
  • Seit “Brandbrief“ der Sozialstadträte vor einem Jahr unverändert angespannte Lage
  • Berlinweit fehlen 630 Mitarbeiter:innen
  • Stadträte wünschen sich Möglichkeit der Stellenumschichtung in den Bezirken

Wenn Sprechtag ist im Sozialamt von Steglitz-Zehlendorf, stehen sich die Menschen vor dem Rathaus Lankwitz die Beine in den Bauch. Fast hundert Personen warten in der Schlange, die bis zum Marktplatz reicht. Die Flure im alten Rathaus sind auch überfüllt.

Die wenigsten der Menschen hier haben einen Termin – auf den müssten sie wochenlang warten. Sie kommen, weil es die einzige Möglichkeit ist, mit ihrem Sachbearbeiter zu sprechen. Weil sie wissen wollen, welche Unterstützung sie beantragen, ob sie umziehen können und was das kosten darf. Weil sie sich erkundigen wollen, was aus dem Antrag geworden ist, den sie vor Wochen gestellt haben. Weil sie sehr dringend Geld brauchen.

Stadtrat Tim Richter vor dem Rathaus Lankwitz. (Quelle: rbb)
| Bild: rbb

"Spielende Kinder, wartende Eltern; Gehbehinderte, für die wir nicht ausreichend Stühle haben, weil wir auf die Menge der Personen nie eingestellt gewesen sind", sagt Stadtrat Tim Richter (CDU).

Überlastung stadtweites Problem

Das Phänomen der Überfüllung kennen sie auch in anderen Sozialämtern, denn so ist es stadtweit, und nicht erst seit gestern.

"Wir arbeiten seit Jahren im Krisenmodus", schrieben die Berliner Bezirksstadträte im Dezember 2022 an die damalige Regierende Bürgermeisterin Giffey. Damals wurde der Berlinpass durch den sogenannten Berechtigungsnachweis für bedürftige Berliner:innen abgelöst. Den müssen seither die Sozial-, und nicht mehr die Bürgerämter ausstellen. Das bindet Personal, das woanders dringend gebraucht wird.

Lage nach Brandbrief unverändert schwierig

Ein Jahr nach dem Brandbrief gestaltet sich die Personalsituation an den Berliner Sozialämtern unverändert dramatisch, wie eine Umfrage von rbb|24 ergab: Fast alle Bezirke leiden unter akutem Personalmangel.

Treptow-Köpenick und Mitte verzeichnen formal einen "langsamen und geringen Stellenzuwachs", allen übrigen Sozialämtern fehlen entweder grundsätzlich Stellen, oder die vorhandenen sind nicht ausreichend besetzt. Viele Kolleg:innen seien dauerkrank, neue Bewerber gebe es kaum, die Lage sei unverändert angespannt, heißt es in den Antworten. Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln melden sogar, die Lage habe sich seit dem Brandbrief verschlechtert.

Nur Reinickendorf meldet eine "leichte Verbesserung", dank kurzfristiger Aushilfen unter anderem des Jobcenters. Und die braucht es auch, denn hier sind 20 Prozent der Stellen nicht besetzt – dauerhaft oder temporär. Woanders ist der Mangel noch größer: In Tempelhof-Schöneberg fehlen beispielsweise 25 Prozent der Sachbearbeiter:innen.

630 Mitarbeiter:innen mehr wären notwendig

Selbst wenn alle Stellen besetzt wären, bräuchte es 630 Sachbearbeiter:innen mehr in den Berliner Sozialämtern, sagt der Neuköllner Sozialstadtrat Hannes Rehfeldt (CDU). "Dann könnten wir den Menschen helfen, und nicht nur Akte auf, Akte zu."

Doch genau so wird in vielen Berliner Sozialämtern gearbeitet – notgedrungen, wie eine Insiderin rbb|24 berichtet: Anna, die eigentlich anders heißt, ist Sachbearbeiterin in einem der zwölf Sozialämter der Stadt, im Bereich "Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung". Sie möchte anonym bleiben, um ihre Vorgesetzten nicht zu verärgern. Sprechen aber will sie über die Arbeitsbedingungen. "Sonst ändert sich nie was. Wir sind einfach am Limit."

Zwei bis drei Monate für Neuantrag

Anna muss nach eigenen Angaben im Schnitt die Belange von 380 Empfänger:innen parallel bearbeiten. Alles komme per Briefpost rein und auch als Briefpost wieder raus: Anträge, Unterlagen, Bescheide. "Manchmal schaffe ich es gar nicht, alle Post eines Tages zu öffnen."

Jede Rentenerhöhung, jede Anhebung des Krankenkassenbeitrags muss vom Amt eingerechnet, die Grundsicherung neu berechnet und als Bescheid per Briefpost verschickt werden. Hinzu kommen Heiz- und Nebenkostenabrechnungen, die die Bürger:innen dem Amt zur Bezahlung vorlegen. Auch die müssen geprüft und dann beglichen werden.

Für Neuanträge auf Grundsicherung brauche sie deshalb oft zwei bis drei Monate, sagt Anna: "Das dauert einfach zu lange, die Leute sitzen ohne finanzielle Unterstützung da." Viele Antragsteller:innen hätten bisher Bürgergeld bekommen, mit dem Wechsel in die Rente stellten die Jobcenter von einem Monat auf den nächsten ihre Zahlungen ein. Und wer von 500 Euro Rente 350 Euro Miete bezahlen müsse, der könne nicht drei Monate warten, bis der Antrag auf Grundsicherung bewilligt sei.

Immer mehr Rentner:innen in der Grundsicherung

Im vergangenen Jahr bezogen nach Angaben der Berliner Sozialverwaltung rund 48.000 Berliner:innen Grundsicherung, weil die Rente nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Das sind 20 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor.

Die Arbeitsgemeinschaft der Berliner Sozialstadträte schätzt, dass in der Grundsicherung die Betreuung von 188 Menschen pro Vollzeitkraft gut zu schaffen wären. Die meisten Bezirke melden auf Anfrage von rbb|24 allerdings 280 bis weit über 300 Fälle.

Um die Lage zu entspannen, wünschen sich die Sozialstadträte von Neukölln und Steglitz-Zehlendorf, Rehfeldt und Richter, dringend eine schnellere und leistungsfähigere Software: Die jetzige sei 20 Jahre alt, sagt Sozialstadtrat Tim Richter. Außerdem plädieren sie für einen Abbau von bürokratischen Vorschriften in der kleinteiligen Bundesgesetzgebung. Das Wichtigste aber: "Wir brauchen mehr Menschen in den Sozialämtern."

Entlastung ist nicht in Sicht

Im Berliner Doppelhaushalt für dieses und das nächste Jahr sind mehr Stellen für die Sozialämter nicht vorgesehen. Stadtrat Tim Richter aus Steglitz-Zehlendorf wünscht sich daher, dass die Bezirke mit ihren Stellen flexibler umgehen könnten. Ähnlich wie in der Pandemie, wo Mitarbeiter aus anderen Verwaltungen zeitweise in die überlasteten Gesundheitsämter versetzt wurden. Oder unbesetzte Stellen, für die es keine Bewerber gibt, ins Sozialamt zu verschieben – denn dort, sagt Richter, hat er im Gegensatz zu anderen Bezirken durchaus Interessenten. Das ist aber alles noch Zukunftsmusik.

Für die Sozialamtsmitarbeiter:innen sind das wenig ermutigende Aussichten. "Wenn du den Leuten nicht das geben kannst, was sie benötigen, weil das alles einfach zu viel ist - dann macht das kaputt", sagt Anna. "Ich werde es von meiner Gesundheit abhängig machen, ob ich gehen muss oder nicht."

Sendung: rbb24 Inforadio, 05.03.2024

Beitrag von Sylvia Tiegs

56 Kommentare

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  1. 56.

    Danke für Ihre ausführliche Darstellung, hier noch eine Ergänzung: die Post an die Antragsteller kann nur Versendet werden und dauert bis zu 8 Tage. Mails die an den zuständigen Sachbearbeiter geschrieben sind, dürfen ausschließlich nur von dieser Person geöffnet werden, Datenschutz! Mails können gesendet werden, jedoch gibt es keine Bestätigung das diese eingegangen ist. Nehmen Sie den Hausbriefkasten, der wird zuverlässig geleert. Wenn Mitarbeiter für Buchstaben fehlen, bleibt alles liegen!

  2. 55.

    Das Projekt Digitale Akte läuft seit über 3 Jahren, also genügend Zeit die Vorschriften anzupassen. Man muss einfach mal machen und bereit sein Verantwortung zu übernehmen. Das größte Problem in der Berliner Verwaltung.

  3. 54.

    Hallo,
    eine nette Ausrede, um schlechte/falsche Grammatik in Schutz tun zu nehmen ;-)
    Im Artikel ging's allerdings um Berliner Behörden und trotz Ihres Einwandes wird's nicht richtig davon.
    Deutschland, ein Land der Macher und Tuer!

  4. 53.

    "Die meisten" Rentner und Asylsuchende haben einen Smart TV? Und können damit auch noch richtig umgehen? Verschaffen Sie sich erstmal Kenntnis darüber wer hilfesuchend beim Sozialamt vorstellig wird! Wer hier Hilfe sucht war in der Regel schon lange vorher arm. Mindestlohn, Bürgergeldbezieher oder längere Zeit krank. Digitale Medien sind gerade für ältere Menschen oft nicht verfügbar geschweige denn der Umgang damit.

  5. 52.

    Die E-Akte ist sicherlich für die Zukunft gesehen eine gute Idee. Man sollte sich aber von dem Gedanken frei machen, dass diese bezüglich der gesetzlich vorgegebenen Arbeitsprozesse in der Sache irgendetwas beschleunigt. Sicherlich fällt die antiquierte Aktenhaltung weg und bringt eine gewisse Entlastung. Problem ist dann nur, wie die Post den Sachbearbeiter erreicht, denn ein Gutteil unserer Kunden ist im Umgang mit einen PC oder Handy ungeübt. Sinnvoller wäre es vor Einführung einer E-Akte die Gestzgebung grundlegend zu vereinfachen. Eine digitale Antragsbearbeitung ist aufgrund der aufgeblähten Vorschriften und der diese Vorschriften weiter aufblähenden Rechtsprechung der Sozialgerichte einfach unmöglich.

  6. 51.

    Die AfD wird dafür Sorge tragen, dass noch viel mehr Menschen Altersarmut erleben werden.

  7. 50.

    "Die meisten Leistungsempfänger haben ein Smart-Tv Zuhause, damit kann man auch ins Internet. "

    Wissen sie überhaupt wovon sie reden? Ich glaube nicht.

  8. 48.

    Ich habe Ihren Rat befolgt, und das Wahlprogramm der Blauen gelesen. Habe dort auf den ersten Blick nichts negatives gefunden. Vielleicht haben Sie da noch zusätzliche Erkenntnisse ? Einige Punkte könnte man sicherlich noch verbessern. Was mir z.B. besonders gut gefallen hat, ist die Forderung, dass Staatsschulden planmäßig getilgt werden sollen. Auch den Mindestlohn, langlebige Produkte und Beendigung von Fehlanreizen im Asylrecht sind doch nichts schlechtes. Was meinen Sie dazu ?

  9. 47.

    Die meisten Leistungsempfänger haben ein Smart-Tv Zuhause, damit kann man auch ins Internet. Also mehr Dienste bitte digital abbilden. Die grundsätzliche Dateneingabe kann bereits vorab Zuhause erfolgen, dann können Termine deutlich kürzer und effizienter sein.

  10. 46.

    Es muss schneller digitalisiert und automatisiert werden in der Verwaltung. Alle Leistungen sollten Mithilfe der Steuer-Idennummer nachverfolgbar und transparent werden, alle Zahlen zentral gespeichert werden, sodass die Verwaltung hier Zugriff hat. Dann könnten viele Zahlen bereits vorher an die Ämter übertragen werden. Es braucht nicht mehr Angestellte in der Verwaltung, sondern effizientere und digitalere Prozesse.

  11. 45.

    Können sie sich entfernt vorstellen, das es "diese Menschen" so nicht gibt? Unter "diesen" sind auch jene denen das Leben voll in die Suppe gespuckt hat. Eine Krankheit, ein Unfall, ein Unglücksfall in der Familie, ein vermeindlich super sicherer Job, der plötzlich von Dritten einfach so verzockt wurde, u.v.m. ". Auch solche Menschen warten dort auf Godot.

  12. 44.

    350 Euro Miete?Der hat noch Glück gehabt. Mein letzter Stand ist 630 warm für eine kleine 1 Zimmerwohnung. Mehr als ich jetzt für meine kleine 2 Zimmerwohnung zahlen muß. Bei Gesetzen mit 16 Dauerkrach darf ich. Möchte ich mir aussuchen wie ich lebe und nicht andere. 42 qm ist nicht viel.Die Wohnung muß zu meinem Leben passen.Aber auch bei 16 h Dauerkrach darf ich Gesetz ist es immer wieder erstaunlich was andere alles müssen. Nur Sie selber nehmen keine Rücksicht auf andere.Ich lebe mein Leben und nicht das von anderen.Die Altersarmut dürfte noch zunehmen.

  13. 43.

    Da haben sie vollkommen recht.
    Das muss man einmal …. aber bei uns gibt jede Behörde für sich alleine die Daten ein.
    Z.B. die Beiträge der Krankenkassen…. Diese Daten gibt die KK ein… jedes brauchbare Lohnprogramm bekommt diese Daten elektronisch für jede KK und damit für jeden Mitarbeiter übermittelt… sogar mit der Bankverbindung der KK.
    Aber in D. Muss man sogar Handelsregisterauszüge schicken obwohl es ein für jeden einsehbares Register gibt, man ist nicht mal in der Lage bereits existierende Daten abzufragen.

  14. 42.

    Jede Form von Digitalisierung macht erst mal Arbeit. Man muss die Arbeitsprozesse neu denken und das ist nicht einfach in der Berliner Verwaltung, wo in den nächsten Jahren ein Großteil in Rente gehen wird.
    Berlin ist das letzte Bundesland in Deutschland, wo eine digitale Aktenverwaltung eingeführt werden soll. Kein Wunder dass die Sozialämter überlastet sind.

  15. 41.

    Das größte Problem bleiben die unbezahlbaren Mieten, der Markt (bestehend aus lauter Einzelnen und Unternehmen) ist völlig entkoppelt und unkontrolliert. Wenn die Mieten nicht vernünftig reguliert werden, laufen wir Gefahr unsere gesamte Gesellschaft, Zusammenhalt und Zukunftsperspektiven zu ruinieren.

  16. 40.

    Man muss aber erstmal Daten eingeben und das macht nun mal ein Mensch.

  17. 38.

    Sorry, ich wollte Ihre Eröffnung nicht kopieren! Habe Ihren Kommentar erst später gelesen! Stimme Ihnen voll zu!

  18. 37.

    Sechs, setzen! In diesem Artikel geht es um Sozialhilfeempfänger, nicht Bürgergeld-! Erschreckend finde ich, dass offensichtlich immer mehr Menschen, die in Rente gehen, davon nicht mehr leben können! Der Grundstein dafür wird in der Lebensarbeitsphase gelegt. Da müsste parallel angesetzt werden! Stichwort prekäre Beschäftigungsverhältnisse!

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