Berliner Sozialämter überlastet - "Wir sind einfach am Limit"
Wem die Rente nicht zum Leben reicht, der kann Grundsicherung beantragen – bekommen tut er sie in Berlin aber zumeist erst Monate später. Grund ist die sehr angespannte Personallage in den Sozialämtern. Von Sylvia Tiegs
- Bis zu 25 Prozent der Stellen in den Berliner Sozialämtern sind dauerhaft nicht besetzt
- Seit “Brandbrief“ der Sozialstadträte vor einem Jahr unverändert angespannte Lage
- Berlinweit fehlen 630 Mitarbeiter:innen
- Stadträte wünschen sich Möglichkeit der Stellenumschichtung in den Bezirken
Wenn Sprechtag ist im Sozialamt von Steglitz-Zehlendorf, stehen sich die Menschen vor dem Rathaus Lankwitz die Beine in den Bauch. Fast hundert Personen warten in der Schlange, die bis zum Marktplatz reicht. Die Flure im alten Rathaus sind auch überfüllt.
Die wenigsten der Menschen hier haben einen Termin – auf den müssten sie wochenlang warten. Sie kommen, weil es die einzige Möglichkeit ist, mit ihrem Sachbearbeiter zu sprechen. Weil sie wissen wollen, welche Unterstützung sie beantragen, ob sie umziehen können und was das kosten darf. Weil sie sich erkundigen wollen, was aus dem Antrag geworden ist, den sie vor Wochen gestellt haben. Weil sie sehr dringend Geld brauchen.
"Spielende Kinder, wartende Eltern; Gehbehinderte, für die wir nicht ausreichend Stühle haben, weil wir auf die Menge der Personen nie eingestellt gewesen sind", sagt Stadtrat Tim Richter (CDU).
Überlastung stadtweites Problem
Das Phänomen der Überfüllung kennen sie auch in anderen Sozialämtern, denn so ist es stadtweit, und nicht erst seit gestern.
"Wir arbeiten seit Jahren im Krisenmodus", schrieben die Berliner Bezirksstadträte im Dezember 2022 an die damalige Regierende Bürgermeisterin Giffey. Damals wurde der Berlinpass durch den sogenannten Berechtigungsnachweis für bedürftige Berliner:innen abgelöst. Den müssen seither die Sozial-, und nicht mehr die Bürgerämter ausstellen. Das bindet Personal, das woanders dringend gebraucht wird.
Lage nach Brandbrief unverändert schwierig
Ein Jahr nach dem Brandbrief gestaltet sich die Personalsituation an den Berliner Sozialämtern unverändert dramatisch, wie eine Umfrage von rbb|24 ergab: Fast alle Bezirke leiden unter akutem Personalmangel.
Treptow-Köpenick und Mitte verzeichnen formal einen "langsamen und geringen Stellenzuwachs", allen übrigen Sozialämtern fehlen entweder grundsätzlich Stellen, oder die vorhandenen sind nicht ausreichend besetzt. Viele Kolleg:innen seien dauerkrank, neue Bewerber gebe es kaum, die Lage sei unverändert angespannt, heißt es in den Antworten. Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln melden sogar, die Lage habe sich seit dem Brandbrief verschlechtert.
Nur Reinickendorf meldet eine "leichte Verbesserung", dank kurzfristiger Aushilfen unter anderem des Jobcenters. Und die braucht es auch, denn hier sind 20 Prozent der Stellen nicht besetzt – dauerhaft oder temporär. Woanders ist der Mangel noch größer: In Tempelhof-Schöneberg fehlen beispielsweise 25 Prozent der Sachbearbeiter:innen.
630 Mitarbeiter:innen mehr wären notwendig
Selbst wenn alle Stellen besetzt wären, bräuchte es 630 Sachbearbeiter:innen mehr in den Berliner Sozialämtern, sagt der Neuköllner Sozialstadtrat Hannes Rehfeldt (CDU). "Dann könnten wir den Menschen helfen, und nicht nur Akte auf, Akte zu."
Doch genau so wird in vielen Berliner Sozialämtern gearbeitet – notgedrungen, wie eine Insiderin rbb|24 berichtet: Anna, die eigentlich anders heißt, ist Sachbearbeiterin in einem der zwölf Sozialämter der Stadt, im Bereich "Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung". Sie möchte anonym bleiben, um ihre Vorgesetzten nicht zu verärgern. Sprechen aber will sie über die Arbeitsbedingungen. "Sonst ändert sich nie was. Wir sind einfach am Limit."
Zwei bis drei Monate für Neuantrag
Anna muss nach eigenen Angaben im Schnitt die Belange von 380 Empfänger:innen parallel bearbeiten. Alles komme per Briefpost rein und auch als Briefpost wieder raus: Anträge, Unterlagen, Bescheide. "Manchmal schaffe ich es gar nicht, alle Post eines Tages zu öffnen."
Jede Rentenerhöhung, jede Anhebung des Krankenkassenbeitrags muss vom Amt eingerechnet, die Grundsicherung neu berechnet und als Bescheid per Briefpost verschickt werden. Hinzu kommen Heiz- und Nebenkostenabrechnungen, die die Bürger:innen dem Amt zur Bezahlung vorlegen. Auch die müssen geprüft und dann beglichen werden.
Für Neuanträge auf Grundsicherung brauche sie deshalb oft zwei bis drei Monate, sagt Anna: "Das dauert einfach zu lange, die Leute sitzen ohne finanzielle Unterstützung da." Viele Antragsteller:innen hätten bisher Bürgergeld bekommen, mit dem Wechsel in die Rente stellten die Jobcenter von einem Monat auf den nächsten ihre Zahlungen ein. Und wer von 500 Euro Rente 350 Euro Miete bezahlen müsse, der könne nicht drei Monate warten, bis der Antrag auf Grundsicherung bewilligt sei.
Immer mehr Rentner:innen in der Grundsicherung
Im vergangenen Jahr bezogen nach Angaben der Berliner Sozialverwaltung rund 48.000 Berliner:innen Grundsicherung, weil die Rente nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Das sind 20 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor.
Die Arbeitsgemeinschaft der Berliner Sozialstadträte schätzt, dass in der Grundsicherung die Betreuung von 188 Menschen pro Vollzeitkraft gut zu schaffen wären. Die meisten Bezirke melden auf Anfrage von rbb|24 allerdings 280 bis weit über 300 Fälle.
Um die Lage zu entspannen, wünschen sich die Sozialstadträte von Neukölln und Steglitz-Zehlendorf, Rehfeldt und Richter, dringend eine schnellere und leistungsfähigere Software: Die jetzige sei 20 Jahre alt, sagt Sozialstadtrat Tim Richter. Außerdem plädieren sie für einen Abbau von bürokratischen Vorschriften in der kleinteiligen Bundesgesetzgebung. Das Wichtigste aber: "Wir brauchen mehr Menschen in den Sozialämtern."
Entlastung ist nicht in Sicht
Im Berliner Doppelhaushalt für dieses und das nächste Jahr sind mehr Stellen für die Sozialämter nicht vorgesehen. Stadtrat Tim Richter aus Steglitz-Zehlendorf wünscht sich daher, dass die Bezirke mit ihren Stellen flexibler umgehen könnten. Ähnlich wie in der Pandemie, wo Mitarbeiter aus anderen Verwaltungen zeitweise in die überlasteten Gesundheitsämter versetzt wurden. Oder unbesetzte Stellen, für die es keine Bewerber gibt, ins Sozialamt zu verschieben – denn dort, sagt Richter, hat er im Gegensatz zu anderen Bezirken durchaus Interessenten. Das ist aber alles noch Zukunftsmusik.
Für die Sozialamtsmitarbeiter:innen sind das wenig ermutigende Aussichten. "Wenn du den Leuten nicht das geben kannst, was sie benötigen, weil das alles einfach zu viel ist - dann macht das kaputt", sagt Anna. "Ich werde es von meiner Gesundheit abhängig machen, ob ich gehen muss oder nicht."
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.03.2024