Tödliche Infusion - Berliner Arzt in Sterbehilfe-Prozess zu drei Jahren Gefängnis verurteilt

Mo 08.04.24 | 11:14 Uhr
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Archivbild: Der angeklagte Arzt Christoph Turowski (l) und sein Anwalt Thomas Baumeyer stehen im Gerichtssaal 500 des Kriminalgerichts Moabit, weil Turowski einer an einer schweren Depression erkrankten Frau Medikamente zur Selbsttötung überlassen haben soll. (Quelle: dpa/Carstensen)
Audio: rbb24 Inforadio | 08.04.2024 | C. Ernst | Bild: dpa/Carstensen

Ein Hausarzt, der einer Studentin zum Suizid verholfen hat, ist am Montag vom Landgericht Berlin zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der Arzt hatte sich auf den klaren Willen der Patientin berufen - das sah das Gericht anders.

Im Prozess um einen Berliner Sterbehilfe-Fall ist am Montag am Berliner Landgericht das Urteil gegen den angeklagten Arzt ergangen. Der 74-jährige ist wegen Totschlags zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Die 37-jährige Frau, der er geholfen hat, war aus Sicht der Richter wegen ihrer Depression nicht zur freien Willensbildung in der Lage. Der Mediziner habe "die Grenzen des Zulässigen überschritten", sagte Richter Mark Sautter. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Arzt hatte bereits zu Prozessauftakt angekündigt, dass er im Fall einer Verurteilung Rechtsmittel einlegen werde.

Die Verteidigung des Arztes hatte auf Freispruch plädiert. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten gefordert.

Arzt beruft sich auf die freie Urteils- und Entscheidungsfreiheit der Studentin

Die Studentin der Tiermedizin soll Anfang Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenommen haben. Laut Anklage stellte er ihr knapp zwei Wochen später tödlich wirkende Tabletten zur Verfügung, die sie jedoch erbrach. Am 12. Juli 2021 soll der Arzt dann der 37-Jährigen in einem Hotelzimmer eine Infusion mit einem tödlich wirkenden Medikament gelegt haben. Diese habe die Frau laut Ermittlungen selbst in Gang gebracht. Kurz darauf sei sie gestorben.

Der Arzt hatte zu Prozessbeginn erklärt, er habe zu keinem Zeitpunkt an ihrer "Urteils- und Entscheidungsfreiheit" gezweifelt. "Ich sah die große seelische Not und die Entschlossenheit, notfalls einen Gewaltsuizid zu begehen." Sein Verteidiger sagte im Plädoyer, es fehle an einer gesetzlichen Regelung - "das ist ein großes Problem".

Interview

Arzt in einem früheren Prozess um Sterbehilfe freigesprochen

Der Angeklagte war früher 30 Jahre als Hausarzt in Berlin tätig. 2015 habe er seine Praxis abgegeben, so der Mediziner. Der Mann gehört einer Sterbehilfeorganisation an und hat nach eigenen Angaben für diese bislang etwa 100 Menschen beim Suizid begleitet.

In einem früheren Prozess um Sterbehilfe war der Arzt freigesprochen worden. Damals entschied das Berliner Landgericht im Fall einer an einer chronischen Darmerkrankung leidenden Frau. Der langjährige Hausarzt hatte der 44 Jahre alten Patientin bei ihrer Selbsttötung geholfen und ihr Tabletten verschrieben, die sie allein eingenommen hatte. Der Patientenwille sei zu achten, hieß es im März 2018 im Urteil, das der Bundesgerichtshof (BGH) später bestätigte.

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym.

Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 www.telefonseelsorge.de

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Sendung: rbb24 Inforadio, 08.04.2024, 08:00 Uhr

101 Kommentare

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  1. 101.

    Das freut mich zu hören. Nach eigener aber ähnlicher Geschichte lese ich gerade "Unzertrennlich" von Irving & Marylin Yalom. Könnte sein, dass es auch Ihnen Wiedererkennen und Trost gibt.

  2. 99.

    Das ist wirklich traurig. In der Logik des Gerichts heute wäre wohl auch sie in deren Augen wegen des Zustand nicht "kompetent" genug, diesen Wunsch zu äußern.
    Ich hoffe, dass Sie dennoch Frieden finden konnten und selbst palliative Hilfe haben, wenn nötig. Es ist noch so viel zu tun.

  3. 98.

    Hallo Neo. Was für eine Gesellschaft würden Sie sich wünschen? Ich habe den Eindruck, dass die gegenwärtige Gesellschaft viele zu ihren Bäumen treibt, statt dass sie darunter sitzen möchten.
    Horror z. B. die Perspektive Altenheim.

  4. 97.

    Bitte was?!? In welchem Reich leben wir?!? "Lebenswertes" Leben?!? Und (Sie?) entscheiden, was das sein soll?!?

    Wenn eine Zwangseinweisung aufgrund der erkrankungsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit in die Behandlungsmöglichkeit und -bedürftigkeit dann letztendlich zu einer erfolgreichen Behandlung mit anschließendem lebenswerten Leben führt, dann ist dies lebenswert!

  5. 96.

    Oje: "Leben retten, wenn es lebenswert geführt werden kann"
    Und das entscheidet auch noch DER Arzt, der niemals irrt?

  6. 95.

    Zur Urteils Begründung. ...aus Sicht der Richter sei die Frau nicht in der Lage zur freien Willensbildung !! Woher weiß das der Richter hat er mit ihr persönlich gesprochen?
    Welcher Gutachter oder Arzt hat ihn beraten?
    Auf welcher Grundlage kommt das Urteil zustande? ? Was für Beweise gibt es? Oder nur auf Vermutungen?
    Aus meiner Sicht ist das Urteil zu recht anfechtbar

  7. 92.

    Dann legt der BGH hoffentlich den Parlamentariern klar dar, wie GG und BVerfG-Urteil gelten und anzuwenden sind. Es lebe die Freiheit!

  8. 91.

    Hören Sie den Audiobeitrag. Die Frau hatte 7 J. Langzeittherapie und -medikation hinter sich. Oft verschlimmern Antidepressiva die Erkrankung bis hin zum Suizid. Ab davon: Wieso sollten nur Nicht-Kranke bzw. Nicht-Diagnostizierte Sterbehilfe erhalten?
    Als ob nicht gehen dürfte, wer gehen will.

  9. 90.

    Urteil also: Diskriminierung von Menschen mit Psyche-Erkrankung. Gegen GG und BVerfG. Der Patientenwille sei zu achten, hieß es im März 2018 im Urteil, das der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte.

    Strafe also: Arzt, Menschen mit Psyche-Erkrankung, alles wegen des Wegduckens der Parlamentarier, die ihre Arbeit nicht tun. Pfui.

  10. 89.

    Ich möchte in diesem Staat einfach die Möglichkeit und die Entscheidungsfreiheit haben, selbstbestimmt und zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt den Schritt vom Leben in den Tod zu gehen - warum auch immer. Das wäre MEINE Entscheidung und niemand hätte das Recht, meine Entscheidung in Frage zu stellen.
    Und diesen, meinen letzten Schritt würde ich lieber friedlich mit ärztlicher Hilfe gehen als mich von einem Hochhaus zu stürzen, vor einen Zug zu werfen o. ä. und damit Unbeteiligte evtl. auf lange Zeit zu traumatisieren ...

  11. 88.

    Danke, gern geschehen. Das ist bei mir über 30 Jahre her. Hilfe und ne Krücke gab mir der Sport und Musik, besonders das Lied "Steh auf" von MMW. Das muss auch jeder für sich herausfinden, was ihm oder ihr hilft. Mein Therapeut sagte dann, er wisse, dass sich eines Tages nicht mehr zu ihm käme und ess wäre dann gut so. So kam es auch, ich hab mich Jahre danach nochmal mit bei ihm gemeldeten uns mich entschuldigt. Wir lachten uns in die Augen und wir beide waren sehr zufrieden. Er hat mit sehr geholfen und dafür bin ich bis heute sehr dankbar. Ich weiß aber auch, dass es anderen nicht so gut geht, bis es dazu kommt, was jetzt verurteilt wurde, weil ein Mensch absolut keinen Ausweg mehr sah. Friede ihrer Seele und Gnade dem Arzt.

  12. 87.

    Schauen Sie mal bitte den Film Gott von Ferdinand Schirach. Da wird auch dieses Thema aus allen möglichen Perspektiven (Rechtslage,Kirche, Arzt und Patient)diskutiert und dort wird auch die Sache mit dem hypokratischen Eid sehr, sehr gut erläutert.

  13. 86.

    Wie gesagt, der BGH wird über die rechtlichen Fragen abschließend entscheiden.

  14. 85.

    Das Landgericht hat entschieden, der verurteilte Arzt hat angekündigt, Rechtsmittel einzulegen. Nach § 333 StPO i.V.m. § 135 Abs. 1 GVG handelt es sich um Revision zum BGH. Wir werden sehen, wie der Bundesgerichtshof das Selbstbestimmungsrecht depressiver Personen einschätzt.

  15. 83.

    Ich warne davor, zu pauschalisieren, ohne die genaue Situation zu kennen. Auch eine dauerhafte Depression, die medikamentös nicht eingestellt werden kann oder deren Therapierung zu schwersten Nebenwirkungen führt, kann ein Leiden hervorrufen, welches ein Leben nicht mehr lebenswert macht. Selbstverständlich muss vor einer Sterbehilfe immer sichergestellt sein, dass es tatsächlich keine andere Möglichkeit mehr gibt und dass der Patient zum Zeitpunkt seiner Entscheidung Herr seiner Sinne war und damit selbstbestimmt. Aber für einzelne Erkrankungen generell zu sagen, da geht es und bei anderen nicht, ist genau so inhuman, wie ein generelles Verbot. Niemand von uns kennt die genauen Umstände, daher ist das Bilden eines Urteils schwierig.

  16. 82.

    Nicht zu fassen, daß Sie diesem Arzt Unverständnis des "Hippokratischen Eides", Altersstarrsinn und Demenz unterstellen! Unfassbar, daß Sie aus dem geschilderten Fall ein "Geschäftsmodell alter Ärzte" konstruieren!
    Ein Mensch, der sein Leben durch schwere, unheilbare organische oder psychische Erkrankungen als Qual empfindet, der einfach nicht mehr leben will, sollte durchaus die Hilfe von Medizinern für ein menschenwürdiges, friedliches und schmerzfreies "Einschlafen" bekommen!
    Aber in unserer "zivilisierten" Gesellschaft wird ein (erst recht selbstbestimmter) Tod als letzter Teil des Lebens einfach nicht akzeptiert.
    Das eingangs erwähnte Geschäftsmodell ist doch eher, daß todkranke Patienten mit allen technischen und pharmazeutischen Mitteln am "Leben" erhalten werden, auch wenn dieses Leben alles andere als lebenswert ist.

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