Kommentar | Wiederholung der Bundestagswahl - Eine Wahl-Rute mit 455 Zweigen

Di 19.12.23 | 15:17 Uhr | Von Sebastian Schöbel
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Wahlberechtigte warten deutlich nach 18 Uhr in einer Schlange vor einem Wahllokal an der Mandelstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg darauf, ihre Stimmen zur Bundestagswahl, der Abgeordnetenhauswahl und der Wahl der Bezirksvertretungen abgeben zu dürfen. (Quelle: dpa-Zentralbild/Georg Hilgemann)
Video: rbb24 spezial | 19.12.2023 | Bild: dpa-Zentralbild/Georg Hilgemann

Wie die Abgeordnetenhauswahl muss auch die Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden - wenn auch nur teilweise. Ein Schaden für die Demokratie ist das Debakel von 2021 so oder so. Und Berlin hat daraus nur bedingt gelernt, kommentiert Sebastian Schöbel.

Auch Socken, ein hässlicher Pullover oder ein Buch, das man längst gelesen hat, zählen als Weihnachtsgeschenke. Vermutlich hat Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler jüngst im rbb-Interview genau das gemeint, als er die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestagswahl mit der Vorfreude "wie vor Weihnachten" bezeichnete: "Wir wissen, dass es Geschenke geben wird, aber nicht welche."

Nun wissen wir, welches "Geschenk" es gibt: Das Bundesverfassungsgericht hat Berlin zu einer teilweisen Wiederholung der Bundestagswahl verdonnert.

Am politischen Kräfteverhältnis wird die Wiederholung kaum etwas ändern, und so richtig gebraucht hat es hier mehr als zwei Jahre nach der Pannenwahl auch niemand. Gemacht werden muss es trotzdem: Weil es selbst in der Hauptstadt des politischen Laissez-faire ein paar Sachen gibt, die man nicht schleifen lassen kann. Die Demokratie ist eine davon.

Was Karlsruhe da unter den politischen Weihnachtsbaum an der Spree gelegt hat, ist also nicht nur ein Paar lieblos ausgesuchter Socken. Sondern eine Rute aus 455 fest zusammengebundenen Zweigen. Es soll ordentlich zwiebeln, wenn die trifft.

Bröchler warnte vor "Desaster"

Man kann nur hoffen, dass der Schmerz hilft. Denn auch wenn sich die Berliner Landespolitik große Mühe gibt, geläutert zu wirken: Es wurden längst nicht alle Lehren aus der Wahl 2021 gezogen, trotz ausführlicher Hinweise einer extra eingesetzten Expertenkommission. Zwar bekommen die Bezirkswahlämter die versprochene personelle Unterstützung, allerdings erst nachdem Landeswahlleiter Bröchler im Sommer mahnend durch die Medien marschierte, weil die Ausgaben für die drei Stellen extra pro Bezirk gar nicht im neuen Doppelhaushalt auftauchten.

Bröchler, der sonst eher nimmermüde fröhlich wirkt, warnte eindringlich vor einem erneuten "Desaster" und dem einsetzenden "Wohlfühlmodus". Das ebenfalls geforderte neue Landeswahlamt, das künftig die Wahlorganisation übernehmen soll, wird es auch geben. Aber erstens startet es nicht schon im Januar, wie ursprünglich geplant, sondern erst im Februar – unmittelbar vor oder erst nach der Wiederholungswahl, in jedem Fall aber zu spät.

Viel ausrichten könnte es aber ohnehin nicht: Die Durchgriffsrechte und Kompetenzen, die Bröchler seit seinem Amtsantritt vor über einem Jahr fordert, hat er noch immer nicht. Dafür müsste die Landeswahlordnung und wohl auch das Landeswahlgesetz geändert werden. Die dafür eingesetzte Arbeitsgruppe im Abgeordnetenhaus hat bislang erst einmal getagt – im November.

Das Kernproblem des Wahldesasters 2021, die mangelhafte Organisationsstruktur, ist noch längst nicht reformiert. Auch deswegen spricht Bröchler davon, man sei noch immer "im Reparaturmodus". Dass zumindest die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus geklappt hat, kann da kaum beruhigen. Schön, dass Papier für Stimmzettel nun rechtzeitig bestellt wird und Wahllokale einen Tag vor der Wahl komplett ausgestattet sind.

Applaus für Selbstverständlichkeiten?

Als Berlinerin oder Berliner kann man da aber durchaus die Frage stellen: Seit wann gibt’s Applaus für Selbstverständlichkeiten? Mit der teilweisen Wiederholungswahl schließt sich im Februar hoffentlich ein besonders peinliches Kapitel der Berliner Geschichte. Ob alle Verantwortlichen die richtigen Schlüsse daraus gezogen haben, muss erst noch bewiesen werden.

So lange kann man Beteuerungen der Politik, das Desaster von 2021 bleibe ein Einzelfall, genauso behandeln wie die Geschichte von einem dicken Mann in rotem Anzug und fliegendem Schlitten, der sich durch Schornsteine zwängt und Geschenke verteilt.

Sendung: rbb24 Abendschau, 19.12.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

7 Kommentare

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  1. 7.

    "Wenn jetzt einzelne nochmal wählen dürfen? " Der Satz stimmt nur, wenn Sie das 'einzelne' auf Wahlbezirke beziehen. Ansonsten gilt das aktuelle Wählerverzeichnis, wer also nicht mehr im Wählerverzeichnis steht, aber bei der ursprüglichen Wahl wählen durfte, darf es nun nicht erneut - dafür dürfen alle, welche jetzt neu im Wählerverzeichnis stehen (z.Bsp. 18 geworden oder zugezogen). Die Gleichheit der Stimmen ist schon deshalb angekratzt - selbst, wenn man die Teilwiederholung als pragmatische Lösung insgesamt akzeptiert.

  2. 6.

    Das Gericht hätte ja die Wahlwiederholung bestätigen können, auf dem Papier zumindest, aber dennoch gleichzeitig mitentscheiden können, dass diese Wahl nicht durchgeführt werden muss.

  3. 5.

    ... orientiert sich an der Verfassung. Die Gesetzeslage ist exakt so. Wer was anderes will, muss das Gesetz ändern.

  4. 4.

    Diese Wahlwiederholung ist der größte Schwachsinn,den man je gehört hat. Dieses Bundesverfassungsgericht trifft sei geraumer Zeit immer wieder blödsinnige Entscheidungen.
    Auch wenn erneut gewählt wird,wird sich nichts grundsätzlich ändern. Diese Neuwahl kostet den Steuerzahler Geld.
    Ich sag nur eins, setzt komplett neue Richter im Bundesverfassungsgericht ein, die jetzigen haben die Realität verloren.

  5. 3.

    ...wo sind da letzlich die gleichen wahlbedingungen sichergestellt? Wenn jetzt einzelne nochmal wählen dürfen? Hätte es da nicht mit allen wiederholt werden müssen - wenn man es genau nimmt. Der schaden ist groß und er wird größer - mit so einem Urteil.

  6. 2.

    Ich bedanke mich für diesen überaus treffenden Kommentar bei Sebastian Schöbel. Mein Highlight war folgender Abschnitt:
    "Was Karlsruhe da unter den politischen Weihnachtsbaum an der Spree gelegt hat, ist also nicht nur ein Paar lieblos ausgesuchter Socken. Sondern eine Rute aus 455 fest zusammengebundenen Zweigen. Es soll ordentlich zwiebeln, wenn die trifft."

    Aber auch der war überaus treffend:
    "Schön, dass Papier für Stimmzettel nun rechtzeitig bestellt wird und Wahllokale einen Tag vor der Wahl komplett ausgestattet sind."

    Und für den gelungenen Abschlusssatz wünsche ich Ihnen allen einfach nur:
    Schöne Weihnachten.

  7. 1.

    Treffender Kommentar, ausreichend faktisch, ausreichend gehässig. Chapeau!

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