Lesung | Jonathan Franzen "Crossroads" - Ein Weltstar im Wohnzimmer

Mo 19.09.22 | 09:02 Uhr | Von Corinne Orlowski
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Der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen sitzt bei einer Pressekonferenz im Landschaftszimmer im Theater Lübeck. Franzen wird mit dem Thomas-Mann-Preis 2022 ausgezeichnet. (Quelle: dpa/Marcus Brandt)
Audio: rbb24 Inforadio | 18.09.2022 | Corinne Orlowski | Bild: dpa/Marcus Brandt

Jonathan Franzen ist einer der größten Erzähler unserer Zeit. Sein neuestes Werk "Crossroads" führte wochenlang die Bestsellerlisten an. Am Wochenende war er auf Stippvisite im Großen Sendesaal des rbb. Von Corinne Orlowski

Mit Lederjacke und Rucksack kommt völlig unprätentiös ein Weltstar auf die Bühne. Na ja, Bühne? Wohnzimmer trifft es wohl eher. Da sind zwei graue Sessel auf einem Hochflorteppich in gemütliches Licht getaucht - auf dem einen sitzt rbb-Literaturexperte Thomas Böhm, auf den anderen lässt sich Jonathan Franzen fallen und freut sich über den warmen Applaus.

Der US-Amerikaner Franzen spricht gut Deutsch, weil er in den Achtzigerjahren in Berlin gelebt hat. Er erzählt, wo er schon überall gewohnt hat: "Als erstes in Zehlendorf, dann Reinickendorf, dann Neukölln und endlich Schöneberg."

800 Seiten über einen einzigen Tag

Das Gespräch führen die beiden dann aber auf Englisch. Franzen hat seinen aktuellen Roman "Crossroads" im Gepäck, der sich mit "Scheideweg" übersetzen lässt und, ja, tatsächlich stehen in diesem Roman alle Figuren der Familie Hildebrandt an so einem Scheideweg. Und wann kriegt man eine sechsköpfige Familie an einen Tisch? An Weihnachten - und das ist auch das Beeindruckende dieses Buches: Franzen erzählt von dieser an sich selbst zugrunde gehenden Familie auf über 800 Seiten an nur einem einzigen Tag, am 23. Dezember 1971.

Er habe über Religion und dem Glauben an das Irrationale schreiben wollen, sagt Franzen, und erinnert sich an seine eigene christlich sozialisierte Jugend in Missouri. Als er die Arbeit an dem Buch beginnt, ist Trump gerade Präsident geworden. Das Schreiben wird für ihn dann so etwas wie eine Realitätsflucht. "Als ich verstanden habe, dass ich die Siebzigerjahre nicht verlassen muss, wenn ich nicht möchte, habe ich es nicht getan", sagt er mit einem Schmunzeln.

"Buddenbrooks" reloaded

Jonathan Franzen erzählt seinen monumentalen Roman aus mehreren Perspektiven und gibt jeder Figur einen eigenen Ton. Das ist seine Meisterschaft und setzt zugleich den Rahmen, in denen die innerfamiliären Verstrickungen und Verleugnungen erst möglich werden. Damit erinnert seine Komposition an Thomas Manns "Buddenbrooks" - dessen Untertitel "Der Verfall einer Familie" wohl auch gut zu Franzens "Crossroads" passen würde.

Thomas Böhm erzählt er, wann ihm seinen Figuren am besten gefallen: Nämlich, wenn sie Fehler machen, wenn sie scheitern. Das mache die Magie des Erzählens aus. Franzens Verbindung zu einer Figur als Schreibender wie auch als Lesender bestehe darin, dieser Figur zu folgen, wie sie einen konkreten Wunsch auslebt.

Franzen schließt die Augen, das Publikum amüsiert sich

Frank Arnold, bekannt als Sprecher zahlreicher Hörbücher und Stimme des ARD-Kulturmagazins "Titel, Thesen, Temperamente" liest auch einfach wunderbar lebendig dazu passend eine Passage aus dem Buch vor. Während Arnold liest und sich das Publikum köstlich amüsiert, schließt Franzen nur die Augen, lächelt mal in sich hinein, lauscht den Worten. Und kommt zu einer Erkenntnis:

"Just speaking to you now, I am realizing how deeply they inform what has become my brand of thinking about writers. I guess I felt like I was old enough to step forward an admit it. You know what? Sorry, I got to speak up and say it nonetheless might be worth taking a look at." Thomas Böhm fasst Franzen mit seinen Worten zusammen: "Es ist durchaus wert, einen Blick auf die Religion zu werfen. Und Jonathan Franzen hat gesagt, für ihn war das Buch eine Heimkehr, ein Nachhausekommen in die Gedankenwelt, die er damals erfahren hat, die ihn offensichtlich doch noch stärker geprägt hat und er ist jetzt alt genug, um zu sagen, ja, das ist so."

"Crossroads" ist der Auftakt einer Trilogie. Damit sich die Figuren auch ja nicht verpassen, habe er den Tag in halbe Stunden eingeteilt. "Am Anfang ist immer die Frage: Ist hier ein Roman?", erzählt Franzen auf Deutsch. "Oft ist die Antwort: nein. Als ich fünf Kapitel geschrieben hatte, war die Antwort: yes. Dann konnte ich mich entspannen und mich um den Plot kümmern."

Typisch amerikanisch, humorvoll und wortgewandt

Jonathan Franzen, dessen Werk die BBC gerade in die Top 20 von den bisher bedeutendsten dieses Jahrhundert gewählt wurde, gibt im vollbesetzten Sendesaal einen spannenden Einblick in die Entstehung von "Crossroads" und die Welt seiner Figuren. Und ja, auch dem Menschen Franzen konnte man ein bisschen näherkommen. Im Gespräch zeigt er sich humorvoll, typisch amerikanisch und zugleich lebensklug, voller Liebe für seine Figuren und Zuneigung für sein deutsches Publikum.

Sendung: rbb24 Inforadio, 19.09.2022, 6:45 Uhr

Beitrag von Corinne Orlowski

3 Kommentare

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  1. 3.

    Er ist supercool

  2. 2.

    Lesen heilt die Seele

  3. 1.

    Sehr sehr Interessant.

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