Konzertkritik | "Passion électronique" - Tanzen im Sitzen in der Philharmonie
In der Passionswoche haben sich mehrere Künstler zu einem einmaligen Konzert in der Berliner Philharmonie zusammengetan. "Passion électronique" vereint religiöse Musik von Bach, leidenschaftlichen Tango und elektronische Clubsounds. Von Corinne Orlowski
An diesem Abend folgt eine Überraschung auf die nächste, so lange, bis man ganz schwindelig aus der Philharmonie stolpert. Die Erste: Irritation. Auf der Bühne ist eine Leinwand aufgebaut. Der soziale Verein Uplift Aufwind stellt sich mit einem Zeichentrickfilm vor. Er hilft Waisenkindern in Kirgistan im zentralasiatischen Hochgebirge. Sie bitten um Spenden. Gleicht ein wenig einer Werbeveranstaltung.
Dann tritt das Streichquartett Wold Phil Berlin auf die Bühne. Bachs "Erbarme dich, mein Gott" aus der Matthäuspassion gibt die Stimmung vor, melancholisch, getragen. Doch die kommt im fast ausverkauften Saal nicht an. Völlige Unruhe. Zwei Männer mit Kameras laufen unentwegt am Bühnenrand hin und her, filmen das Publikum. Boah, das stört. Erbarme dich!
Das hat Geschmäckle
Als Martina Gedeck im goldenen Glitzerkleid auf die Bühne tritt: Aufmerksamkeit. Sie liest am Pult stehend einen Auszug aus dem (noch unveröffentlichten) Romanmanuskript von niemand Gerningerer als der Leiterin von Uplift, Maren Ernst. Das hat jetzt irgendwie ein Geschmäckle. Und ist das tatsächlich ein literarischer Text? Gleicht eher einem Bericht, wie Ernst im Jahr 2005 entsetzt ist von den Zuständen im Kinderheim, denn Berührungen sind verboten.
Naja, anrührend ist der Abend bis hier hin auch nicht. Aber das ändert sich mit Aydar Gaynullin, virtuos am Akkordeon und einem Tango-Ensemble. Und Tango, wie passend, heißt ja nichts anderes als: Ich berühre.
Gute Laune in der Karwoche
Hier setzt die zweite Überraschung ein: gute Laune in der Passionswoche. Gaynullin weckt das Publikum auf, verausgabt sich richtig. Die älteren Damen mit ihren Fascinators im Haar wiegen ihre Köpfe im Rhythmus.
Und dann tritt die kasachische Sopranistin Zarina Altynbayeva auf die Bühne. Sie trägt ein üppiges, feuerrotes Glitzerkleid mit Ballonärmeln, so groß, man könnte ihr glatt ein zweites daraus schneidern. Sie trägt dick auf, mit ausladenden Gesten und verzerrtem Gesicht singt sie herzzerreißend. Wenn sie die hohen Töne nimmt, versagen mitunter sogar die Lautsprecher und schnarren übersteuert.
Aber als wäre das noch nicht genug, kommt ein Paar auf die Bühne und tanzt Tango vorn am Bühnenrand, auf gefühlt zwei Quadratmetern. Eng umschlungen und in fließenden Bewegungen drehen sie sich im Kreis, rechtsrum, linksrum, Bein an die Hüfte. Sie trägt ein schwarzes Glitzerkleid mit einem Schlitz hinten, oh là là, hoch bis zum Po und vorne tief ins Dekolleté. Das verursacht ein Dauerlächeln bei einigen Herren. Das südamerikanische Feuer von Astor Piazzollas Libertango reißt spätestens jetzt alle mit.
Die ersten Ü-50-Jährigen verlassen den Saal
Erstmal durchatmen und Platz machen für das kanadische DJ-Trio Cobblestone Jazz. Etwas unzugängliche Sphärenklänge gemischt mit groovigen Soundflächen und harten Beats. Auf der riesigen Leinwand im Hintergrund flackern verschiedene Blumenblüten, die sich zu bunten Farbpixeln verzerren, ja zerstäuben, zerbersten.
Im Sitzen tanzen in der Philharmonie? Dritte Überraschung: Das geht. Nur verlassen da die ersten Ü-50-Jährigen den Saal. Zu krass. Aber was hat das alles noch mit den kirgisischen Kindern zu tun? Und Passion ist das auch nicht, eher eine Party aber eben mit passion, mit Leidenschaft und Hingabe. Das verbindet den religiösen Bach im weitesten Sinne mit clubbigem Electro.
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.04.2023, 08:55 Uhr