Konzertkritik | Steve Hackett in Berlin - "Der Typ von Genesis" und noch viel mehr

Do 27.04.23 | 08:49 Uhr | Von Jakob Bauer
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Archivbild:Steve Hackett bei einem Konzert am 30.07.2022 in Rom.(Quelle:imago images/C.Enea)
Audio: rbb24 Inforadio | 27.04.2023 | Jakob Bauer | Bild: imago images/C.Enea

Genesis verbinden viele mit den Frontmännern Phil Collins und Peter Gabriel. In den 70ern waren Genesis aber auch stark geprägt von ihrem Gitarristen Steve Hackett. Der ist immer noch auf Tour und spielt Genesis-Klassiker und eigene Stücke. Obwohl Peter Gabriel fehlt, war Jakob Bauer sehr angetan.

Ist das der Ausverkauf? Ist das Geld-Macherei mit dem alten, großen Namen? Eine blutleere Kommerzveranstaltung? Das könnte man denken, aber: Nein, so einer ist Steve Hackett nicht. Dieser Typ ist brutal kreativ. Er hat Genesis Ende der 70er verlassen, weil er sich zu eingeengt gefühlt hat – und das muss man auch erst mal schaffen. Immerhin waren Genesis damals eine Progressive-Rock Band, also voll im Experimentiermodus. Aber Hackett wollte mit seiner Gitarre immer noch mehr ausprobieren, veröffentlicht seit Jahrzehnten Solo-Alben und spielt seine Musik gleichberechtigt neben den alten Genesis Hits live, auch an diesem Abend in der Berliner Verti Music Hall.

4/4-Takt? Sowas von vorgestern

Und das Publikum ist an diesem Abend auch nicht nur wegen alter Heldenverehrung gekommen. Die Leute haben Bock auf Prog, auf diese komplizierte Spielform der Rockmusik. Mit komplexen Harmoniefolgen, klassischen und weltmusikalischen Anklängen. Und das liefern Steve Hackett und seine drei Mitmusiker an Bass, Schlagzeug und mit allerlei atmosphärischem Keyboard-Gedöns. Es ist schon eine Kunst, Steve Hackett und Band hauen einen langen Riemen nach dem anderen raus, zehn Minuten im Durchschnitt, viel rein instrumental. Aber das wird nie langweilig, weil Hacketts Kompositionen viele Drehungen und Wendungen nehmen, aber nie komplett wegdriften. Ein klarer 4/4-Takt ist zwar eher eine Ausnahmeentscheidung, aber gerade wenn die Komplexität Überhand zu nehmen droht, lässt ein hymnisches Crescendo doch wieder die Emotionen purzeln.

Im Sitzen lässt sich’s nicht gut Schwitzen

Zumindest ein bisschen, denn ein bisschen bleibt bei der Show auch die Handbremse angezogen. Das liegt daran, dass die Band zwar gewissenhaft, angemessen virtuos und durchaus mit Freude, aber nicht euphorisch aufspielt. Das liegt auch am Sitzkonzert. Der Altersdurchschnitt ist um die 50, vielleicht haben sich die Veranstalter deswegen gedacht, bestuhlen wir das mal lieber komplett, man wird ja mit dem Alter Abends auch nicht fitter. Aber zu dieser Musik muss man sich doch mit geschlossenen Augen hin und herwiegen, sich bewegen, eintauchen. Und so überträgt sich nicht alles so ganz in den Zuschauerraum, was in dieser Musik angelegt ist.

Wenig theatrale Wucht

Nach circa einer Stunde ist dann erstmal mit Schluss Hackett-Songs und es kommt für viele Fans zum Höhepunkt des Abends: Hackett – der von einem seiner Mitmusiker mal augenzwinkernd als der "Typ von Genesis" vorgestellt wird – und Band spielen das komplette Album "Foxtrot" von Genesis, eines ihrer großen Werke aus den 70ern, inklusive des 25-Minuten-Epos "Supper‘s Ready". Allerdings muss man feststellen: Hier fehlt doch was. Und das ist der charismatische Frontmann Peter Gabriel. Denn während die Solo-Songs von Hackett natürlich klar auf ihn und sein Gitarrenspiel zugeschnitten sind, lebten Genesis auch von der unglaublichen Ausstrahlung Gabriels. Und der Sänger, den Hackett dabei hat und der Gabriel ersetzt, trifft zwar die Töne ganz gut und hat auch eine schwelgerische Aura, aber es wirkt alles ein bisschen angestrengt, nicht so klangvoll und vor allem: Die theatrale Wucht von Peter Gabriel, mit seiner Stimme, seinen großen Gesten, seiner spiritueller Präsenz, die fehlt. Und das fehlt dann auch der Musik.

Virtuoses Herumeiern

Aber: Nicht so schlimm. Steve Hackett ist ja Gitarrist und er klingt mit 73 Jahren immer noch verspielt und frisch, die Klänge perlen nur so aus dem Instrument heraus. Das ist virtuoses Herumeiern, wenn Hackett mit dem Tremolo-Hebel die Töne nur so herumschüttelt. Das ist hinreißend schön, wenn ganz sanft die Harmonien hereinschwingen, wenn komplizierte Soli mit einer prägnanten, einfachen, aber wundervollen Melodie-Linie enden. Und obwohl ein Bandmitglied aus Krankheitsgründen nicht spielen kann, ist der Gesamtklang an diesem Abend warm und voll. Und überhaupt ist das ein freundliches und angenehmes Konzert mit vielen kompositorischen Highlights. Steve Hackett darf gerne noch lange weiter Album um Album veröffentlichen und nebenbei Genesis am Leben erhalten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 27.04.2023, 7 Uhr

Beitrag von Jakob Bauer

12 Kommentare

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  1. 12.

    Peter Gabriel. Phil Collins. Ray Wilson. NAD SYLVAN: Es ist unangebracht, wertende Vergleiche zu ziehen. Es wäre schlimm, eine Cover-Band erwarten zu wollen, die das Original 1:1 nachspielt. Es ist aber eine große Kunst jemanden zu finden, der das Alte mit Eigenständigem, Zurückgenommenen in der Theatralik neu oder zumindest etwas verändert interpretiert. Und das macht der von Steve Hackett Auserwählte, Nad Sylvan, hervorragend. Er passt perfekt in das Konzept, das auch Sax & Flöte integriert, die es in dieser Form bei Genesis nicht gab. (Gute Besserung - Rob Townsend!!) - Also - Nad Sylvan sollte die Anerkennung erhalten, die er verdient. Übrigens lohnt es sich, seine Solo-Werke mal zu hören.

    Nun freue ich mich auf die alte, neue "Nursery cryme" im Jahre 2024. Auch gern wieder in Berlin!!

  2. 11.

    Eine sehr ansprechende Konzertkritik, wobei auch ich gar nicht so zum Zielpublikum gehöre.
    Zum Thema "sitzen oder stehen?": Ich finde es immer toll, wenn beides angeboten wird, damit alle Besucher/innen auf ihre Kosten kommen. Lustig, dass der Autor im Kommentar Dead can Dance erwähnt, meine absolute Lieblingsband. Die spielen ja leider immer nur vor komplett sitzendem Publikum, was für mich auch stets etwas sadistisches hat - man spielt doch nicht eine sowas von tanzbare Musik (ja, sie haben auch viele ruhige Stücke, zugegeben) und dann darf das Publikum nicht dazu tanzen! In der Mercedes-Benz-Arena wurde ich fast rausgeschmissen, weil ich es hinten in einer dunklen Ecke doch gewagt hatte, mich hinzustellen und zu tanzen. Die Verbotsbegründung lautete, ich könnte mich beim Tanzen verletzen... :-D
    Ich habe den Hinweis im Text zu diesem Thema ebenfalls nicht als herabwürdigend in irgendeiner Weise aufgefasst.

  3. 10.

    Mir hat es auch sehr gut gefallen, wirklich starke Gitarren-Soli und schöne Progrock-Passagen. Klang schon sehr nach Genesis, auch wenn der Sänger natürlich nicht an Peter Gabriel rankam. Aber das trübte nicht den positiven Gesamteindruck. Hab‘s auch im Sitzen genossen, und fühlte mich nicht von Jakob Bauer „ein wenig verhöhnt“.

  4. 9.

    Also, ich empfinde es auch als angenehmer bei dieser konzertanten Musik zu sitzen. Bei einem Patti Smith-Konzert beispielsweise könnte ich mir auch nicht vorstellen still auf einem Platz zu sitzen. Aber, jeder fühlt,empfindet und erlebt Musik anders - von daher Alles Gut. Und ja, Sie haben Recht, der Beitrag von Uiuiui war überzogen. (Prog)-Rockige Grüße!

  5. 8.

    Ja Thomas, aber gestern war es nicht anstrengend. Blöcke 201-205 in der Verti Musik Hall sind genial. War gestern bei weitem nicht ausverkauft. Das hieß: Freie Platzwahl! Ich hab noch NIE ein Konzert so entspannt genießen können ...Gut,die Tickets für diese Blöcke sind etwas teurer...lohnt sich aber!

  6. 7.

    Hey, der Autor hier - ich kann nicht ganz nachvollziehen, dass hier der Eindruck entstanden ist, dass ich irgendwo draufhauen würde. Ich weiß auch nicht, was das mit meinem persönlichen Alter zu tun hat. Ich dachte ich hätte es klar formuliert. Ich habe nix gegen Sitz-Konzerte, ich war schon auf ganz wundervollen Sitzkonzerten, zum Beispiel Dead Can Dance im Tempodrom, nur ein Beispiel. Aber ich - und nicht nur ich, sondern auch einige im Publikum um mich herum - hatten das Gefühl, dass gerade bei dieser Musik etwas verloren geht, wenn man eingeengt auf den kleinen Stühlen der Verti Music Hall sitzt. Und Steve Hackett hat am Ende sogar darum gebeten, ob man nicht wenigstens bei diesem Zugabe-Song vielleicht stehen könnte, um ihn und der Band etwas zurückzugeben. Insofern kann ich Ihre Polemik nicht ganz nachvollziehen, verhöhnt habe ich hier niemanden, einzig die Veranstalter kritisiert und meinen Eindruck dessen geschildert, dass beim Sitzen etwas atmosphärisches verloren geht.

  7. 6.

    Danke rbb für diese schöne Konzertkritik !

  8. 5.

    Gute Kritik! Respekt! Da hat sich mal einer mit Hackett/Genesis beschäftigt. Ich fand das Konzert super. Und das Rob Townsend nicht dabei war, empfand ich als wohltuend. Er hat,meines Erachtens, manchmal ein bisschen genervt mit seinen Saxophon-Einlagen , z.B. bei "Firth of Fifth". Ansonsten bin ich sehr froh, das es noch so viele Leute gibt, die die "alte" Genesis -Musik noch lieben.

  9. 4.

    Den Absatz "im Sitzen lässt es sich nicht gut schwitzen" hätte sich Herr Bauer sparen können. Was soll denn dieses einfältige Draufhauen auf eine Generation, die er auch mal altermäßig erreichen wird? Außerdem gibt es genug Konzerte, bei denen Bestuhlt ist. Aber keine SOrge Herr Bauer, auch die, die Sie hier ein wenig verhöhnt haben, wissen zu feiern. Ich werde dieses Jahr 60, jabe die geilsten Konzerte mit echter Musik in Hallen erleben dürfen, Genesis vor dem Reichstag, Wembley usw. - da dürfen wir und auch übrigens viele jüngere Leute, auch mal sitzen und Musik einfach nur genießen ohne rumhotten zu müssen, denn das machen wir in u.A. Wacken noch zur Genüge :-P

  10. 3.

    ICh habe ihn letztes Jahr in der Verti Music Hall erlebt - sein Gitarrenspiel, wie damals, perfekt und toll, seine Soloalben sind alle durchweg genial, aber die Genesis-Songs waren dann für mich spürbar enttäuschend, bis auf sein geniales Gitarrenspiel. Das Schlagzeug ohne den Druck, wie es Phil Collins gespielt hat, das Keyboard ohne Tony Banks auch leider öfter daneben und der Gesang war auch leider unterirdisch, zumal der Sänger letztes Jahr dazu noch erkältet war.
    Daher habe ich es mir dieses Jahr es nicht angetan, aber sein Album "Surrender Of SIlence" letztes Jahr dort gekauft - sensationell.....
    Ich freue mich auf Peter Gabriel im Mai :-))) und trotzdem Danke Steve Hackett für das Wirken bei Genesis, die tollen Alben mit ihm und seine Soloprojekte.

  11. 2.

    Danke, lieber rbb, für die Beachtung dieses Konzerts durch den Bericht! Ich war nicht dabei, ziehe mir aber auf Youtube entsprechende Ausschnitte rein (für einen Rentner weniger anstrengend als live im Publikum) und besitze natürlich fast die gesamte Retrospektive von Hackett & Co-Prog. Zugegeben: Es ist ein Nischengeschmack, aber seit über 50 Jahren meiner!

  12. 1.

    Ich bin jetzt nicht sooo der Fan, aber: diese "Konzertkritik" war so mega gut :-) habe sie heute morgen im Radio gerhört und bin wieder mal begeistert - weil mich jemand begeistern kann für etwas, wo ich nicht mal sooo der Fan bin ;-) Muss die Lobhudelei mal los werden. Und heute abend klemm ich mich vor yt und schaue mal Videos von Steve Hackett...

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