Theaterkritik | Saison-Auftakt am DT - "Was ist denn das hier für eine Geschichte?"

Mo 18.09.23 | 13:24 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Julischka Eichel, Sarah Franke, Felix Goeser, Julia Gräfner, Lorena Handschin, Manuel Harder, Florian Köhler, Alexej Lochmann, Peter Rena Lüdicke, Anja Schneider, Caner Sunar - Weltall Erde Mensch, Eine unwahrscheinliche Reise von Alexander Eisenach und Ensemble, Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Sven Michelson, Niklas Kraft, Live-Video: Oliver Rossol, Dramaturgie: Karla Mäder, Johann Otten. (Quelle: imago images/F. Gaeth)
Audio: rbb24 Inforadio | 18.09.2023 | Barbara Behrendt | Bild: imago images/F. Gaeth

Auftakt-Doppel am Deutschen Theater: In "Erde Weltall Mensch" nimmt Alexander Eisenach sich in jeder Hinsicht zu viel vor. "Prima Facie" ist dagegen ganz auf den bravourösen Einstand der Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno zugeschnitten. Von Fabian Wallmeier

Brav aufgereiht stehen sie, die zehn Schauspieler:innen und die zwei Musiker, jede:r hält stolz ein Exemplar von "Weltall Erde Mensch" in der Hand. Das Wissenskompendium war in der DDR jahrzehntelang das Standard-Geschenk zur Jugendweihe. Und es ist nun an diesem Samstagabend Titel und Ausgangspunkt der Spielzeit-Eröffnung am Deutschen Theater (DT)unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg.

Ein weitschweifiges Unterfangen hat sich Alexander Eisenach für diesen Auftakt vorgenommen. Der DDR-Sammelband versuchte nicht weniger als so ziemlich die gesamte Breite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zusammenzufassen - ideologisch gefärbt nach den Vorgaben des Kommunismus natürlich. Eisenach nimmt sich noch mehr vor: Unter Zuhilfenahme zweier Science-Fiction-Romane gibt er seinem mit drei Stunden und 45 Minuten langen Abend zwei Handlungsstränge. In dem einen geht es um eine Weltraum-Expedition, im anderen um ein Parallelwelt namens Whileaway, in der es seit dem Aussterben der Männer nur noch Frauen gibt.

Vor allem letzterer Strang, nach Joanna Russ' feministischem Science-Fiction-Roman "The Female Man", prägt den Abend. Immer wieder bietet er die Grundlage für Schlagabtäusche über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Allerdings wirken die Erkenntnisse, die dort diskutiert werden, fast so verstaubt wie die marxistisch-leninistische Ideengeschichte, die in Gestalt des Jugendweihe-Präsents der Ausgangspunkt des Abends ist.

Julischka Eichel, Sarah Franke, Felix Goeser, Julia Gräfner, Lorena Handschin, Manuel Harder, Florian Köhler, Alexej Lochmann, Peter Rena Lüdicke, Anja Schneider, Caner Sunar - Weltall Erde Mensch, Eine unwahrscheinliche Reise von Alexander Eisenach und Ensemble, Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Sven Michelson, Niklas Kraft, Live-Video: Oliver Rossol, Dramaturgie: Karla Mäder, Johann Otten. (Quelle: imago images/F. Gaeth)(Bild: imago images / F. Gaeth)

Nach Castorfscher Machart

Durchgängig erzählt wird bei Eisenach nicht. Die Erzählstränge tauchen auf, verschwinden wieder, verschränken sich oder auch nicht - und lassen dazwischen Raum für viel Geschrei und Live-Videoprojektionen nach Castorfscher Machart und allerlei ungeordnete Szenenabfolgen: Zwischen handwerklich gut gemachtem Slapstick und Klamauk werden immer wieder philosophische Diskurse angerissen, die es verdient hätten, weiter ausgelotet zu werden.

Doch sie verschwinden im Vielzuviel des ausufernden Abends. "Was ist denn das hier für eine Geschichte? Völlig formloses Zeug", nörgelt Felix Goeser gegen Ende. Das löst natürlich Lacher im Publikum aus - aber ein solcher selbstironischer Taschenspielertrick entschuldigt die tatsächliche geschwätzige Fahrigkeit des Abends nicht.

Alexander Eisenach hat sein Glück in den letzten Jahren in Berlin schon mehrfach versucht. Am Berliner Ensemble entwickelte er drei größtenteils sehr klamaukige Stücke. 2019 etwa eröffnete er dort die Saison mit der Thomas-Mann-Überschreibung "Felix Krull" - gekonnt gespielte Sketch-Miniaturen, bei denen am Ende alles einerlei bleibt, weil eine durchgängige Idee fehlt.

Kurz darauf ging es weiter an der Volksbühne unter Interims-Intendant Klaus Dörr, wo Eisenach, gebremst von Corona, zunächst "Der Kaiser von Kalifornien" auf die Bühne brachte. Ein sehr viel düstererer, ernsthafterer - und, der Tradition des Hauses folgend, ausschweifender Abend.

 

Warum Eisenach zum Auftakt?

Großen Widerhall hatten Eisenach Arbeiten an beiden Häusern nicht. Dass Iris Laufenberg nun ausgerechnet ihn die neue Spielzeit eröffnen lässt, bleibt nach diesem Abend unverständlich, trotz der Zusammenarbeit in Graz, die die beiden verbindet. Weder setzt hier eine vom Berliner Publikum zu entdeckende neue Stimme frische Akzente, noch bringt ein weithin etablierter Regie-Star altmeisterlich die Bühne zum Leuchten.

Am ehesten funktioniert "Weltall Erde Mensch" noch als Präsentation der Spieler:innen. Eisenach lässt viele Monologe sprechen - und so hat man die willkommene Gelegenheit, sich vor allem ein paar der Neuen im Ensemble genauer anzuschauen. Julia Gräfner etwa gibt mit Freude eine schnippische Gesandte von Whileaway, die belustigt davon ist, was für ein seltsames Frauenbild die hiesigen Erdlinge haben. Und Alexej Lochmann kann als durch ein Missverständnis an Bord des Raumschiffs gelangter "Astrogator" eine Kostprobe seiner emotionalen Bandbreite geben.

Mercy Dorcas Otieno - Prima Facie von Suzie Miller aus dem Englischen von Anne Rabe, Regie: Andras Dömötör, Bühne und Kostüme: MoÃra Gillià ron, Musik: Tamas Matko, Dramaturgie: Jasmin Maghames. (Quelle: imago images/F. Gaeth)(Bild: imago images / F. Gaeth)

Ein Solo am Sonntagabend

Die eindrücklichste Begegnung mit einem neuen Ensemblemitglied gab es aber erst einen Tag später in den Kammerspielen zu bestaunen: Mercy Dorcas Otieno absolvierte am Samstagabend die zweite Eröffnungspremiere als eindreiviertelstündiges Solo. In "Prima Facie" spielt sie eine aus einfachen Verhältnissen aufgestiegene Anwältin, die von einem Kollegen vergewaltigt wird und vor Gericht nun die Seiten wechselt: Nahm sie früher als Verteidigerin ihrer Mandanten Vergewaltigungsopfer ins Kreuzverhör, ist sie nun selbst Klägerin.

Der am DT wohlbekannte Regisseur András Dömötör inszeniert das schnörkellos im auf wenige Leuchtelemente und drei Hocker auf Rädern reduzierten Bühnenbild von Moïra Gilliéron. Er setzt ganz auf seine Darstellerin.

Mercy Dorcas Otieno - Prima Facie von Suzie Miller aus dem Englischen von Anne Rabe, Regie: Andras Dömötör, Bühne und Kostüme: MoÃra Gillià ron, Musik: Tamas Matko, Dramaturgie: Jasmin Maghames. (Quelle: imago images/F. Gaeth)(Bild: imago images / F. Gaeth)

Schematischer Text, nuancierte Darstellung

Eine weise Entscheidung - das Stück selbst nämlich, die deutschsprachige Erstaufführung eines internationalen Bühnenrenners der Australierin Suzie Miller, hat deutliche Schwächen. Recht schematisch zeigt der Text eine klassistischen Ungerechtigkeiten trotzende Aufsteigerin. Und sehr plakativ mündet er in einem Plädoyer (wir sind schließlich vor Gericht) für ganz konkrete Gesetzesänderungen hinsichtlich des juristischen Umgangs mit Vergewaltigungsvorwürfen.

Doch was Otieno daraus macht, trägt den Abend mühelos. Die Rolle gibt ihr die Gelegenheit, in allen Facetten in die Vollen zu gehen. Erst ist sie die kühl auf den eigenen Vorteil bedachte und dann wieder freudig schnippisch kommentierende Anwältin, dann die liebevoll die Marotten der Mutter bespöttelnde Tochter. Später ist sie die geschmeichelte und lustvoll flirtende Kollegin, dann plötzlich die entwürdigend vom Kollegen Bedrängte und das verzweifelt weinende Opfer im Taxi auf dem Weg zur Polizei. Im Prozess ist sie dann die sich voller Entsetzen über die Mechanismen einer Gerichtsverhandlung bewusst werdende Anklägerin - und schließlich schwingt sich sich in stolzer Selbtsermächtigung zur Aktivistin hoch.

Natürlich ist das schon in der Anlage der Rolle mehr als dick aufgetragen. Doch Otieno füllt sie mit so vielen Nuancen und mit so viel Leben, dass man sich freuen kann auf das, was in künftigen Inszenierungen von ihr am DT zu sehen sehen wird.

Sendung: rbb24 Inforadio, 18.09.2023, 06:00Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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