Interview | Biopsychologe zu dunkleren Städten in der Nacht - "Menschen haben gute Gründe, sich in der Dunkelheit vorsichtig zu verhalten"

An vielen öffentlichen Gebäuden wird bereits die nächtliche Beleuchtung abgeschaltet. Dadurch wird es vielerorts dunkler. Was macht das mit den Menschen? Es verunsichert sie. "Aus guten Gründen", sagt Biopsychologe Peter Walschburger.
rbb|24: Herr Walschburger, möglicherweise wird es in Berlin in der Nacht bald deutlich dunkler sein als bisher. Die Stadt will Energie sparen. Was macht das mit den Menschen? Hat eigentlich jeder Mensch Angst im Dunkeln?
Peter Walschburger: Man kann davon ausgehen, dass sich alle Menschen im Dunkeln unsicherer fühlen als bei Licht.
Woher kommt das?
Da können wir einen kleinen Blick in die evolutionäre Anpassung des Menschen werfen. Wie alle anderen Lebewesen auch, haben wir uns an die auf die Erdrotation bezogenen Tag-Nacht-Schwankungen angepasst. Daraus ergibt sich ein grundlegender Lebensrhythmus. Denn unter natürlichen Bedingungen sehen wir nachts praktisch nichts, während wir tagsüber sehr gut sehen können. Sodass es Sinn macht, tagsüber aktiv zu sein und nachts auf Sicherheit zu achten, sich in die "Höhle" zurückzuziehen. Da kann man sich schlafend regenerieren, was am besten bei tiefer Dunkelheit gelingt.
Da wir aber doch oft im Dunkeln rausgehen wollen oder müssen, möchten wir dabei gern etwas sehen. Und gerade in städtischen Umgebungen hat das dazu geführt, dass wir unsere Umwelt nachts so hell erleuchten, dass zunehmend von Lichtstress, also von zu viel Licht, die Rede ist. Wer dann in seine Wohnung zurückkommt, der beschäftigt sich womöglich noch mit Computer oder Smartphone. Wer dabei keinen Gelbfilter benutzt, ist einem Licht mit hohem Blauanteil ausgesetzt. Das hemmt die schlafanstoßende Wirkung des Schlafhormons Melatonin und stört den Schlaf-Wach-Rhythmus.
Man kann also sagen, dass alle Menschen gute Gründe dafür haben, sich im Dunkeln vorsichtig zu verhalten. Dass dies oft mit Angst verbunden ist, dafür gibt es die unterschiedlichsten Gründe. Angst bedeutet ja, dass wir eine Situation als unheimlich oder bedrohlich einschätzen. Aber eine dunkle Umwelt ist auch objektiv gefährlicher als eine helle.
Ist die Unsicherheit in der Dunkelheit bei Frauen stärker ausgeprägt?
Über beide Geschlechter hinweg finden wir große Unterschiede zwischen Personen: Es gibt die Angsthasen und solche, denen vor gar nichts graut. Die Helden leben aber meist nicht so lange wie die Vorsichtigen. Unsere Angstbereitschaft ist ein evolutionäres Erbe. Die Verbrechensstatistik zeigt, dass es eher männliche Täter sind, die im Dunkeln zuschlagen und dass sie eher leichte Beute suchen. Frauen passen insofern gut ins Beuteschema von Gewalttätern. Das gilt aber auch für alte und gebrechliche Menschen. Vor einigen Jahren gab es zu Halloween die "bösen Clowns", die vor allem alten Frauen die Handtaschen raubten – und das bevorzugt an dunklen Ecken.
Frauen sind aber auch stärker als Männer von Vorsicht, Fürsorge, und einer lebensbewahrenden Haltung geprägt. Von daher überrascht es nicht, dass Frauen mit der Dunkelheit mehr Probleme haben.
Auch Kinder sind ängstlicher im Dunkeln. Das Erste, was Eltern ihrem Kleinkind vermitteln müssen, ist Sicherheit und Vertrauen. Halloween ist ein Ritual, wo Kinder in Gruppen mit Kürbis-Laternen in die unheimliche Dunkelheit hinausziehen. Da kommt es dann zu einem Gruseleffekt, einer Art Angstlust, bei der ihre Angst angeregt wird, sie aber bemerken, dass sie in der Gruppe sicher sind: Ein interessantes Wechselspiel zwischen der Angst vor Dunkelheit und bösen Geistern und der Lust bei ihrer Überwindung.
Gibt es möglicherweise beim Sicherheitsgefühl in der Dunkelheit einen Unterschied zwischen Menschen, die auf dem Land leben und Städtern?
Ja. Denn wir sind soziale Wesen. In kleinen Dörfern kennt fast jeder jeden. Da kann man fast nichts tun, ohne dass ein Nachbar das bemerkt. Viele Städter sind froh, ohne diese Kontrolle in der anonymeren Stadt zu leben. Aber auf dem Dorf fühlt man sich sicherer, weil man sich von vertrauten Menschen umgeben sieht. Dass also sofort ein Fenster aufginge, wenn man einen Alarmruf ausstoßen würde und ein Nachbar einem helfen würde.
In der Stadt trifft man hauptsächlich auf fremde Menschen. Da macht jeder sein eigenes Ding und wenn man Hilfe braucht, muss man eher damit rechnen, dass die anderen nicht helfen. Für diesen "Bystander"-Effekt gibt es schlimme Beispiele. Vor einigen Jahren lag mal ein hilfloser alter Mann in einer Stadt abends in einem Bankvorraum. Über den waren mehrere Menschen einfach hinweggestiegen. Erst der fünfte oder sechste hat Hilfe gerufen. In Städten ist man insofern weniger sicher bei Dunkelheit als in kleineren Gemeinden.
Wir fühlen uns also besonders sicher, wenn wir uns in einem vertrauenserweckenden, persönlich bekannten oder "familiären" Umfeld befinden. Im englischen bedeutet "familiar" ja vertraut. Es wäre schön, wenn sich auch Städter mehr zusammenschlössen. Nachbarschaftsportale können hier etwa eine Hilfestellung bieten, damit das Thema Dunkelheit nicht nur als angstbesetztes Thema wahrgenommen wird. Denn vereint kann man kann ja einiges gegen die Angst tun. Idealerweise könnte also eine verstärkte Dunkelheit nicht nur helfen, Energie zu sparen, sondern sie könnte sogar weitere positive Effekte im Bereich unserer Gesundheit und unseres Soziallebens anregen.
Gibt es noch weitere praktische Verhaltenstipps, um sich in der Dunkelheit sicherer zu fühlen?
Man könnte die Kontaktabschnittbeamten der Polizei wieder reaktivieren. Als ich vor etwa 40 Jahren nach Berlin kam, waren diese "Schupos" vielen Bewohnern der Stadt noch persönlich bekannt. Man hat sich freundlich gegrüßt und unterhalten. Anders als heute, wo Polizeiautos an uns vorbei durch die Nacht huschen. Es heißt dann zwar schnell, die Polizei habe zu wenig Personal. Aber man könnte so unser Sicherheitsgefühl stärken.
Aber auch wir selbst könnten als städtische Nachbarn sensibler werden für eine Kultur des Zusammenlebens. Zehlendorf, wo ich wohne, ist eine privilegierte Wohngegend, aber was die Nachbarschaftskultur betrifft, gibt es noch eine Menge Luft nach oben. Es wäre schön, wenn die Menschen nicht nur über kleine Kinder, Katzen, Hunde oder über Störfälle ins Gespräch kämen. Ideal wäre, dass man sich etwa in einem Haus, in dem mehrere Parteien wohnen, gegenseitig die Schlüssel anvertraut, wenn man verreist und dass man sich auch bei alltäglichen Fragen und Problemen nicht verschließt, sondern sich offen, hilfreich und fürsorglich begegnet und damit zu einer sicheren und vertrauten Wohnumgebung beiträgt.
Apropos Sicherheit. Ist es eigentlich wahrscheinlicher, Opfer eines Verbrechens zu werden, wenn man Angst ausstrahlt?
Ein Hund, dem man sich ängstlich nähert, ist sehr sensibel für eine solche Ausstrahlung. Er kann Angst – anders als wir Menschen – tatsächlich riechen. Menschliche Gewalttäter suchen sich vor allem Opfer aus, bei denen sie wenig Gegenwehr erwarten dürfen, die ihnen also nicht gefährlich werden können.
In einer Studie des Max-Planck-Instituts heißt es, dass besonders Menschen mit Erfahrungen von verbaler oder körperlicher Gewalt (egal ob die Verbrechen im Hellen oder Dunkeln passiert sind) nachts nicht gern rausgehen. Warum ist gerade bei diesen Menschen die Angst vor Dunkelheit ausgeprägter?
Das ist aus psychologischer Sicht ein eher trivialer Effekt. Persönliche Betroffenheit im Sinne von Gewalterfahrungen sorgt dafür, dass die Menschen sehr viel vorsichtiger sind. Unter Umständen reagieren solche Menschen sogar übersteigert defensiv oder phobisch und gehen nachts gar nicht mehr raus. Persönliche Erfahrungen sind besonders handlungsrelevant und lösen ein entsprechendes Schutzverhalten aus.
Rechnen Sie damit, dass eine reduzierte öffentliche Beleuchtung in Berlin dazu führen wird, dass sich dann im Dunkeln weniger Leute nach draußen trauen?
Statistisch gesehen wird das so sein. Mehr Menschen werden sich dann, aus den genannten Gründen, nachts nicht mehr so oft nach draußen bewegen. Denn so fühlen sie sich sicherer. Ich möchte aber dafür werben, dass wir uns dadurch nicht nur alarmiert fühlen, denn etwas weniger Licht in der nächtlichen Stadt hat ja auch positive Effekte.
Warum sollten wir Menschen die Energiekrise nicht nutzen, um unsere Hygiene des Tag-Nacht-Lebens zu verbessern? Warum sollten wir nicht darüber nachdenken, dass es gute Gründe dafür gibt, nachts bei Dunkelheit zu schlafen und tags bei hellem Licht rauszugehen? Es ist ausgesprochen gesund, so zu leben. Man sollte sich nachts keinen unnötigen Lichtreizen aussetzen.
Probleme, die die Dunkelheit bringt, möchte ich damit nicht wegreden. Ich schlage aber vor, sie in einem etwas weiter gespannten Kontext zu betrachten. Dann wird schnell klar, dass den Verzichtserfahrungen in der Energiekrise durchaus auch eine Reihe positiver Effekte gegenüberstehen. Von Winston Churchill stammt das Zitat: "Vergeude nie eine gute Krise". Wir können auch die derzeitige Energiekrise für positive Lebenserfahrungen nutzen.
Kann man sich auch daran gewöhnen, dass es nachts grundsätzlich nicht mehr so hell ist?
Natürlich. Es mag zwar die üblichen Meckereien und den einen oder anderen Zwischenfall geben. Und sollte ein solcher gar im Sommerloch passieren, wird er von den Medien zusätzlich hochgejubelt werden. Aber ich gebe abschließend zu bedenken: Die weitaus meiste Zeit, in der es uns Menschen gibt, haben wir so gelebt, dass es nachts absolut dunkel war.
Ich habe selbst im mediterranen Bereich in den 70er und 80er Jahren eindrucksvolle Dunkelheitserfahrungen gemacht. Da gab es in manchen Gegenden keinen Strom und nachts konnte man einen überwältigenden Sternenhimmel bewundern. Das sind bewegende Naturerfahrungen, die von Eichendorff ("Mondnacht") und anderen romantischen Dichtern eindrucksvoll beschrieben wurden, die man aber heute kaum noch kennt.
Um absolute Dunkelheit geht es in den Städten aber ohnehin nicht. Hier erfordert die Verkehrssicherheit ein Mindestmaß an Grundhelligkeit, auf die man nicht verzichten wird.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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