Notruf 112 - Rettungsdienste beklagen Bagatellanrufe - Jüngere werden zunehmend aggressiv

Di 07.11.23 | 14:19 Uhr | Von Bendrik Muhs
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Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr fährt am 24.10.2023 auf der Straße "Unter den Linden". (Quelle: Picture Alliance/Sebastian Gollnow)
Picture Alliance/Sebastian Gollnow
Bild: Picture Alliance/Sebastian Gollnow

Wer die 112 wählt, sollte eigentlich wissen, dass man die Nummer nur in wirklichen Notsituationen nutzt. Doch trotz umfangreicher Aufklärung hat sich der Missbrauch sogar noch verstärkt. Von Bendrik Muhs

  • 116 117 bei akuten Krankheitsfällen anrufen
  • 112 nur bei lebensbedrohenden Situationen wählen (Atemnot, Ohnmacht, schwere Unfälle)
  • Ziel-Zeit bei echten Rettungseinsätzen wird immer häufiger überschritten

Über eine Million Notrufe gingen bei der Feuerwehr in Berlin 2022 ein - alle 26 Sekunden einer. Nicht einmal die Hälfte davon führte wirklich zu Rettungseinsätzen. Und: Wegen der Überlastung erreichen nur noch 44 Prozent der Rettungskräfte die Ziel-Zeit von 10 Minuten.

In Brandenburg wird die Ziel-Zeit von 15 Minuten noch in 85 Prozent der Fälle erreicht, dennoch beklagen die Feuerwehren auch hier eine Zunahme von unnötigen Notrufen, die im Zweifel echte Rettungseinsätze verzögern.

"Die Bagatelleinsätze haben zugenommen, das spiegelt sich darin wider, dass an einigen Orten Hausärzte und Fachärzte fehlen", so Rüdiger Maus, Einsatzkoordinator der Leitstelle Lausitz, gegenüber dem rbb-Verbrauchermagazin Super.Markt. Zudem sei die Hemmschwelle, den Notruf zu wählen, insgesamt stark gesunken. Allein in den vergangenen fünf Jahren hätte sich die Situation massiv verändert.

Notruf nur bei lebensbedrohlichen Symptomen wählen

Aber was ist streng genommen ein Notfall? Die medizinische Sachlage ist relativ klar: Der Anruf bei der 112 ist nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um akute lebensbedrohliche Symptome handelt, also etwa Ohnmacht, Atemnot oder einen allergischen Schock, unkontrollierte Blutungen und schwere Unfälle, aber auch Sprach- oder Sehstörungen und heftigste Brust-, Bauch- und/oder Rückenschmerzen.

Dennoch nutzen vor allem jüngere Menschen den Notruf immer häufiger bei Bagatellfällen. Oft fehle schlicht das Wissen, was eine nicht lebensbedrohliche Krankheitssituationen ist, berichten die Mitarbeiter von Rüdiger Maus. In der Gesellschaft verschiebe sich etwas. Und er selbst ergänzt: "Die Generation, die jetzt alt geworden ist, die weiß noch, damit umzugehen. Die jüngeren Generationen rufen hier an und erwarten, dass der Rettungsdienst kommt. Dabei haben sie sich zum Beispiel mit dem Thema Fieber nie beschäftigt."

Wir können keine Rezepte schreiben, wir können auch nicht einfach schnell drüber gucken, das ist nicht die Aufgabe des Rettungsdienstes.

Rüdiger Maus, Einsatzkoordinator der Leitstelle Lausitz

Der Rettungsdienst hat in solchen Bagatellfällen auch nur beschränkte Möglichkeiten, so Maus. "Wir können keine Rezepte schreiben, wir können auch nicht einfach schnell drüber gucken, das ist nicht die Aufgabe des Rettungsdienstes."

Anrufer zunehmend aggressiver

Der Einsatzleiter berichtet auch von einer steigenden Aggressivität der Anrufer, wenn man ihnen erklärt, dass ihr Anliegen kein Notfall sei. Für ihn und seine Kollegen in der Leitstelle seien es immer dann schlimme Situationen, wenn sie persönlich angegriffen würden, "weil wir unsere Arbeit machen und ordentlich abfragen". Sie haben oft kein Verständnis dafür, warum so viel abgefragt würde und nicht einfach ein Rettungswagen käme, oder warum ein Patient lieber den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst kontaktieren solle.

Kassenärztlicher Bereitschaftsdienst auch 24 Stunden erreichbar

Der Bereitschaftsdienst ist genau wie die Feuerwehr 24 Stunden am Tag erreichbar und ähnlich organisiert wie die Feuerwehr. Unter der Nummer 116 117 werden Fälle bearbeitet, die zwar akut, aber nicht lebensbedrohlich sind. Er sollte dann genutzt werden, wenn Praxen schon geschlossen sind oder ein Patient sie aus gesundheitlichen Gründen nicht aufsuchen kann. Für Verbraucher bleibt er die beste Alternative zur 112, auch wenn am 24. Oktober die Meldung kam, dass durch ein Urteil des Bundessozialgerichts zu Honorierungsfragen zukünftig weniger Ärzte zur Verfügung stehen werden.

Ein Urteil, dass die Ärzteschaft beunruhigt. "Dieses Urteil des Bundessozialgerichts macht uns allergrößte Sorgen, weil wir davon ausgehen müssen, dass es dadurch zu sehr starken Einschränkungen in der Patientenversorgung kommen kann", so Dr. Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin. Schon im Dezember wird es seinen Angaben zufolge so sein, dass die KV den ärztlichen Bereitschaftsdienst und auch die Beratungsärzte reduzieren muss.

Der Bereitschaftsdienst ist bereits jetzt überlastet, unter anderem wegen vieler Bagatell-Anrufe. Es gäbe eine Anspruchsmentalität, die letztendlich zu Lasten der Allerschwächsten ginge. "Dass die Ressourcen begrenzt sind, das interessiert viele Patienten nicht. Ich bin wichtig, diese Mentalität herrscht schon", so Anika Pollock, Leitstellendisponentin der KV Berlin.

"Patienten-Navi" soll Notdienst entlasten

Diese dauerhafte Verstopfung des Notdienst-Telefons soll ein neues Online-Tool abmildern, das seit diesem Jahr im Netz verfügbar ist. Im sogenannten Patienten-Navi werden die eigenen Symptome medizinisch eingeordnet, je nach Schwere wird dann weitervermittelt – zu einer Praxis, zum Notdienst oder zu einer weiteren telefonischen Beratung.

Die Lebensretter und Bereitschaftsärzteappellieren an die Patienten, die knappen Ressourcen der 112 und auch der 116 117 zu respektieren und die Nummern wirklich nur in lebensbedrohlichen oder akuten Situationen zu nutzen.

Charlotte Conrad ist Notfall-Sanitäterin, sie gibt Patienten einen einfachen Rat: "Grundsätzlich ist es immer wichtig, erstmal in sich hineinzuhorchen, ob es wirklich so schlimm ist, wie man gerade denkt, oder ob man sich nicht vielleicht wirklich in etwas hineinsteigert". Wer sich hilflos fühle, dem könne es manchmal schon helfen, einen Freund oder ein Familienmitglied auf die Situation anzusprechen.

Sendung: Super.Markt, 06.11.2023, 20:15 Uhr

Beitrag von Bendrik Muhs

70 Kommentare

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  1. 70.

    zu den Öffis muß man erstmal kommen , der Nachbar ist nicht da und Taxi rufen ist auch nicht hilfreich weil es dem Betroffenen sehr schlecht geht, Schwindel, Gangunsicherheit etc.

    " Unglaublich das alles hier. " ich denke, wir reden aneinander vorbei

  2. 69.

    Man kann die Schuld natürlich immer auf andere schieben ... dann geht in die Schulen und klärt auf (;

  3. 68.

    Hat alles mit Bildung, Respekt, Elternhaus, Akzeptanz und Respekt zu tun.
    Die wenigsten sind im Besitz davon..... also können wir leider alle nichts erwarten was normal ist.
    Danke Regierung seit 2015.

  4. 67.

    Weißte, da wird dir jahrelang eingebläut, dass der Infarkt sich durch Rücken- und Bauchschmerzen äußert, vor allem bei Frauen, und dann rufste an, in verständlicher Panik, und hier wird das als Bagatelle abgetan? Hallo? Und die 116117 ist doch heillos überfordert, das sind doch die, wo man sich auch zum Impfen anmelden musste, hat super geklappt *ironieoff*. Ja ne, und das heißt auch nicht umsonst "KASSENärztlicher Bereitschaftsdienst". Für alle Staatsdiener und Lehrer hier fällt das schon mal weg - die sind alle PRIVAT versichert. Also gefühlt 95 % der Berliner, die sich ständig krank melden.

    Bitte mal realistisch die Situation betrachten. Das Konzept muss schon mehr beinhalten, nämlich:
    - Kassenärzte mit vorgeschriebenen Öffnungszeiten (also nicht nur von 10-11 und 15-16 Uhr, aber nicht Mi und Fr)
    - aufgestockte 116117
    - Privatärztlicher Bereitschaftsdienst von PKV finanziert
    - Trennung 112 Feuer und 112 Krankheit (114 beispielsweise)
    - mehr Einstellungen in der Feuerwehr!

  5. 66.

    „ Wie im Beitrag erwähnt sind viele Anrufer überfordert.“
    Ihren Vorschlag finde ich an Sich sehr gut, aber dass die Jugendlichen mit der Entscheidung „ich bin krank“ oder „ich bin in Lebensgefahr“ überfordert sind, spricht nicht für die heutige Zeit …

  6. 65.

    Der kassenärztliche Bereitschaftsdienst muss vom Patienten selbst gezahlt werden (wenn GKV versichert). Das wird auch der Grund sein weshalb man lieber die 11w anruft, da kostet es nichts und es bleibt mehr Geld übrig für die Ausleihen von E Scootern

  7. 64.

    ...Taxi, Öffis, Nachbar...aber eben keinen Rettungswagen. Genau um diesen Punkt geht es hier. Diese flächendeckende Hilflosigkeit und Verantwortungsverlagerung gepaart mit absolutem Anspruchsdenken "just in time" ist der Hauptgrund für den Kollaps des Systems!

  8. 63.

    ...ojee...wenn man nicht fahrtüchtig ist, dann eben Taxi oder Öffis oder der Nachbar...aber eben niemals einen Rettungswagen!

    Noch mehr Lebenshilfe gibt es von mir ab jetzt aber nur noch gegen Bezahlung. Unglaublich das alles hier.

  9. 62.

    Dem stimme ich voll zu. Mir ist es auch so gegangen. Beziehungsweise meinen Mann. Wasser in der Lunge Sepsis usw. Mein Mann ist leider verstorben.

  10. 61.

    hätten sie den kommentar gelesen auf den ich geantwortet habe würden sie ihre fehleinschätzung begreifen.
    ich wollte lediglich sagen, dass unter 116 117 nicht immer ein fachlich kompetenter arzt am anderen ende der leitung sitzt.
    meine frau habe ich selbst zur notaufnahme gebracht!
    also bitte keine haltlosen anschuldigungen.

  11. 60.

    Mehr Geld in Schulen, Lehrer etc. zu stecken, würde zwar akut nicht helfen, aber künftig wieder für intelligente Mitmenschen, die beurteilen können, was ein Notfall ist, sorgen.
    Leider sehe ich in diesem Land schwarz, was das angeht.

  12. 59.

    Sie sollten 100€ nehmen ! Und wenn der Arzt die Diagniose gestellt hat gibt es dann 100€ zurück, oder anteilig.

  13. 58.

    Verfahrensvorschlag:
    Leitstellen von 112 und 116117 besser verknüpfen, sodass die Leistellendisponenten der 112 (erfahrenes Personal) den Einsatz direkt an die 116117 weiterleiten können. Wie im Beitrag erwähnt sind viele Anrufer überfordert. Statt 84 Millionen Menschen zu schulen, welche Nummer wann richtig ist, könnte man organisatorische Maßnahme ansetzen. Das ist m.E. leichter zu realisieren.
    Zudem besteht das Risiko, dass die Informationskampagenen zu 112/116117 Menschen verunsichert und Angst schüren, mit Wahl des Notruf etwas falsches zu tun.

  14. 57.

    Ich hab neulich 10 Euro Zuzahlung leisten müssen für einen RTW. Das Kind war außer Haus verunfallt, und der RTW wurde von jemand anderem gerufen. Techniker Krankenkasse.

    Finde das okay, auch wenn es als erzieherische Maßnahme in diesem Fall überhaupt nicht greift. Demgegenüber bin ich neulich vom Facharzt ins Krankenhaus eingewiesen worden und mit dem Bus hingefahren. (Wie sich inzwischen gezeigt hat, war es nicht ungefährlich.)

  15. 56.

    viel berechtigtes pro & contra in den Kommentaren .

    den Hinweis im Kommentar frau holleDienstag, 07.11.2023 | 17:30 Uhr sollte man mal prüfen , welche Bevölkerungsschichten den Notdienst neuerdings immer stärker frequentieren

  16. 55.

    " . In allen anderen Fällen Hausarzt, ärztlicher Notdienst oder selbst in die Notaufnahme. "

    theoretisch kalr , aber der HA hat bereits geschlossen , beim ärztlicher Notdienst hängt man ewig in der Warteschleife ( rbb berichtete )
    und selbst in die Notaufnahme setzt ja voraus, dass man noch fahrtüchtig ist

  17. 54.

    Es ist nicht nur die TikTok Generation. Setzen Sie sich mal 3 Stunden in die Notaufnahme ins Urban-Krankenhaus oder in ein Neuköllner Krankenhaus .

  18. 53.

    Es geht nicht um meine Meinung. Es wird im Beitrag mehrfach erwähnt, dass es ganz klare Symptome gibt, bei denen der Rettungsdienst zu alarmieren ist. Atemnot ist eines dieser Symptome. Von Corona und Sauerstoffbedarf, war in ihrem ursprünglichen Beitrag keine Rede.

  19. 52.

    Wenn alle Menschen wegen Bauchweh den Rettungsdienst rufen, gibt es keinen Rettungsdienst mehr. Deswegen einfach auf die Profis hören und bei den mehrfach im Beitrag erwähnten eindeutigen Symptomen die 112 wählen. In allen anderen Fällen Hausarzt, ärztlicher Notdienst oder selbst in die Notaufnahme. Eigentlich nicht so komplex.

  20. 51.

    @Berni Geröllheimer: doch. Man kann nicht nur über die 116 117 klären, ob es wirklich lebensbedrohlich ist, sondern auch direkt mit der nächsten Notaufnahme telefonisch.
    Hatte ich auch mal, wo ich nicht recht wusste, ist es nun Herz oder Speiseröhre. Die Dame am anderen Ende fragte einige Dinge ab und meinte schließlich dass es wahrscheinlich nichts mit dem Herzen ist. (Nämlich, weil die Durchblutung noch komplett i.o. war.) Zudem habe ich was an der Speiseröhre, das lag also auch nahe. Genau solche Unsicherheiten kann man eben telefonisch abklären, bevor man die 112 ruft.
    Z.B. lief es bei mir auch schon andersherum, da wurde mir der Rat gegeben, besser rumzukommen. Das stellte sich - leider nicht durch die Notaufnahme, sondern dann auch im ambulanten Termin - heraus, dass der Fuß gebrochen war. (Mithin war die Notaufnahme an sich auch unnötig. Na gut, die Krücken und 'ne Orthese gabs so einen Tag früher :D. Aber in die Notaufnahme bin ich mit dem Taxi gefahren, also nix NRW).

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