Holocaust-Überlebende Friedländer spricht mit Grundschülern - "Seid gut. Seid Menschen. Versteht mich."

Mi 22.05.24 | 13:40 Uhr | Von Lisa Steger
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Margot Friedländer beim Vortragen und beim Signieren ihre Bücher am 21.05.2024 in einer Grundschule in Kleinmachnow(Quelle:rbb/L.Steger)
Video: rbb24 Brandenburg aktuell | 21.05.2024 | Jacqueline Piwon | Bild: rbb/L.Steger

Margot Friedländer ist 102 Jahre alt und hat als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt. Vater, Mutter und ihr Bruder wurden in Vernichtungslagern ermordet. Am Dienstag hat sie in der Eigenherd-Grundschule in Kleinmachnow aus ihrem Leben erzählt. Von Lisa Steger

Die alte Dame ist klein, sehr schmal und sie schiebt einen Rollator vor sich her, als sie in die Aula der Eigenherd-Grundschule in Kleinmachnow (Potsdam-Mittelmark) geht. Doch geistig ist Margot Friedländer vollkommen klar. Die 102-Jährige versteht alles und sie erinnert sich an alles.

Warum nimmt Margot Friedländer Veranstaltungen wie diese auf sich - in ihrem Alter? Das wollen die Kinder wissen. "Ich tue es für Euch, nicht für mich. Und für die, die es nicht geschafft haben", erwidert sie mit fester Stimme. "Für die sechs Millionen ermordeten Juden, die man unschuldig umgebracht hat. Und auch für die vielen Millionen Menschen, die Hitler nicht gewollt haben."

Die Letzte ihrer Familie

Ein Film wird in der Schulaula abgespielt. Er zeigt Margot Friedländer, wie sie vor ein paar Jahren aus ihrer Autobiografie las: "Versuche, Dein Leben zu machen", heißt das 2008 erschienene Buch, das inzwischen in der 17. Auflage erschienen ist.

"Versuche, Dein Leben zu machen", das waren die letzten Worte, die Friedländers Mutter ihr hinterließ. Auf einem Zettel, den ihr eine Nachbarin aushändigte. Die Mutter hatte sich, während Margot in Berlin unterwegs war, mit dem Sohn Ralph der Gestapo ausgeliefert und war umgehend deportiert worden. Die Gestapo hatte die Wohnung der Familie versiegelt.

Margot Friedländer hält ein Adressbuch und eine Bernsteinkette in die Luft, als diese Passage des Films ertönt. Das Buch und die Kette sind alles, was sie von ihrer Mutter noch hat, und sie hat die Sachen überallhin mitgenommen. Sogar ins KZ.

Ihr seid die Hoffnung. Ihr gebt mir die Kraft.

Margot Friedländer

Nach der Deportation ihrer Angehörigen riss Margot Friedländer ihren Judenstern von der Jacke ab, färbte sich die Haare rot – um weniger jüdisch auszusehen, wie sie sagt - und versteckte sich 15 Monate lang in Berlin; dann gab sie auf. Sie ergab sich der Polizei und wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Das war im Juni 1944. "Das Lager war überfüllt, der Strom der Häftlinge versiegte nie", so die 102-Jährige. Wie die Fliegen seien die Menschen an Hunger und Seuchen gestorben.

"Im Februar 1945 kamen die offenen Waggons", berichtet sie. Es waren Züge voller Auschwitz-Häftlinge; die SS hatte sie nach Theresienstadt geschafft, um angesichts der anrückenden Roten Armee Spuren zu beseitigen. "Arbeitskommandos holten die Lebenden und die Toten aus den Waggons. Viele fielen tot aus den Zügen heraus", erinnert sich Friedländer. "Es waren Menschen, die keine Menschen mehr waren, die Lebenden waren kaum von den Toten zu unterscheiden."

Margot Friedländer beim Vortragen und beim Signieren ihre Bücher am 21.05.2024 in einer Grundschule in Kleinmachnow(Quelle:rbb/L.Steger)Margot Friedländer signiert ihre Bücher.

Die Fragen der Nachfahren

Der Film endet, die Kinder schweigen bedrückt. Eine Stunde lang haben sie konzentriert zugehört. Jetzt sind sie dran mit ihren Fragen. Mehr als 50 Kinder der sechsten Klassen, die sich wochenlang mit ihren Lehrerinnen auf dieses Gespräch vorbereitet haben. Wie Margot Friedländer die Befreiung 1945 erlebt habe, will ein Kind wissen. "Es war kein gutes Gefühl", antwortet die Zeitzeugin. "Denn dann habe ich erfahren, was wirklich mit meinem Vater, meiner Mutter, meinem Bruder, Großmutter, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins geschehen ist."

Was der schönste Moment in ihrem Leben gewesen sei? "Das war, als ich Herrn Friedländer in Theresienstadt traf, ich kannte ihn aus Berlin." Die beiden haben noch im KZ geheiratet, erzählt sie, und sind ein Leben lang zusammengeblieben. 1946 wanderten sie gemeinsam aus. "Er ist in den USA beerdigt."

Ob sie trotz allem ihr Leben genossen habe? Über diese Frage muss die Holocaust-Überlebende länger nachdenken. Sie schaut die Kinder unverwandt an. "Wir sind Gezeichnete. Aber ich reiche Euch die Hand."

2010, mit 88 Jahren, kehrte Margit Friedländer nach Deutschland zurück. Und spricht seither regelmäßig in Schulen. "Ihr seid die Hoffnung. Ihr gebt mir die Kraft", schließt sie ihre Ausführungen. "Seid gut. Seid Menschen. Versteht mich."

Antisemitismus heute

Die Kinder sind sichtlich bewegt, mancher wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. "Es waren viele Sachen, wo man sich dachte, warum tun Menschen das", sagt Nike, elf Jahre alt. "Mich hat am meisten bewegt, dass die Menschen, die aus den Zügen fielen, aussahen wie Tote, so ausgemergelt", ergänzt ihre gleichaltrige Freundin Merle. Und Marie, selbst jüdisch, ist "erschüttert". Sie hat Verwandte im Holocaust verloren.

Mit ihren Eltern und drei Geschwistern lebt sie schon lange in Kleinmachnow. Auch hier und heute gebe es Antisemitismus. "Ich hätte schon Angst, dass das wieder passieren kann, ich werde manchmal beleidigt. Nicht auf dieser Schule, aber woanders", berichtet Marie. Ein Sporttrainer in Michendorf habe zu ihr gesagt, "dass ich nicht dazugehören kann, dass ich weggehen soll in ein anderes Land." Der Mann sei daraufhin entlassen worden.

Es waren viele Sachen, wo man sich dachte, warum tun Menschen das.

Nike (11), Grundschülerin

"Meine Mutter ist aus Russland geflüchtet und im Flüchtlingsheim wurde sie von anderen Flüchtlingen beleidigt", so die Elfjährige. "Meine Mutter hat schon überlegt, in ein anderes Bundesland zu ziehen, in den Westen. Oder gleich in die USA."

Berlin sei für jüdische Menschen gefährlicher als Brandenburg, ist Marie überzeugt. "Die, die uns beleidigen, kommen aus anderen Familien, sie sagen Sachen, die einfach nicht stimmen", erzählt sie sichtlich angefasst. "Sie sagen, dass wir schlechte Menschen sind, dass wir was verbrochen haben."

Der Zufall einer Begegnung

Karen Korge, Leiterin der Eigenherd-Grundschule, weiß, wie brisant das Thema ist. Sie will ihre Schüler gegen den Hass immunisieren. Der Besuch Margot Friedländers war ein Glücksfall, sagt sie: Ein Sechstklässler, der die 102-Jährige über seine Eltern kannte, habe sie direkt gefragt, ob sie kommen wolle. Und sie wollte.

An diesem Nachmittag in der Schulaula stellt Margot Friedländer klar: Sie will weiter mit Kindern sprechen – solange sie es gesundheitlich schafft. Zurzeit sieht es danach aus, als könne das noch eine Weile gelingen.

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 21.05.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Lisa Steger

6 Kommentare

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  1. 6.

    " Ob sie trotz allem ihr Leben genossen habe? "

    wohl kaum, ihre Antwort ist ausweichend und zu recht

  2. 5.

    " Kinder der sechsten Klassen, die sich wochenlang mit ihren Lehrerinnen auf dieses Gespräch vorbereitet haben."

    in einer Berliner Grundschule- ich war in der 2.Klasse 1951- wurden uns Auschwitzfilme gezeigt, ohne wochenlange Vorbereitung.
    Alle Schüler waren völlig verstört und konnten das Gesehene nicht begreifen

  3. 4.

    "Seid gut. Seid Menschen. Versteht mich."

    eine allzeit gültige Aussage , die aber leider nach Bedarf ignoriert wird

  4. 1.

    "Sie will weiter mit den Kindern sprechen", das ist sehr wichtig! Die Kinder sind unsere Zukunft!!! Meine volle Hochachtung für die alte Dame.

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