Großdemonstration in Berlin - In der Krise schlägt die blaue Stunde der AfD
Mehr als 10.000 Menschen folgten der AfD nach Berlin. Das schafft keine andere Partei, an keinem Ort in Deutschland. Sie erreicht neue Umfragehöhen und profiliert sich als Fundamentalopposition in Kriegszeiten. Von Olaf Sundermeyer
Diese Krise kommt für die AfD zwei Jahre zu früh. Erst im Herbst 2024 wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. So wie im Herbst 2014, als in genau diesen drei Bundesländern der Aufstieg der AfD zu Deutschlands wichtigster parlamentarischer Opposition seinen Anfang nahm. Zu Beginn der Flüchtlingskrise.
Jetzt ist wieder Krise, in Zeiten von Krieg und Inflation. Das bedeutet wieder Auftrieb für die AfD; sie klettert in den Umfragen auf neue Höhen. Bei der Sonntagsfrage im ARD DeutschlandTrend kommt sie auf 15 Prozent (plus zwei Prozent) [tagesschau.de].
In Ostdeutschland ist sie in der aktuellen Stimmungslage stärkste Partei. Aber gewählt wird außer in Niedersachsen und in Cottbus auf lange Sicht nicht mehr.
Mehr als 10.000 Teilnehmer bei AfD-Demo
Dabei träumen viele Anhänger der AfD in dieser blauen Stunde seit dem Wahlerfolg der postfaschistischen Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni auch hierzulande von italienischen Verhältnissen, von der möglichen Regierungsübernahme durch eine nationalistische Partei: Dazu passt die aktuelle Kampagne der AfD: "Unser Land zuerst!", zu der ihr am Samstag mehr als 10.000 Menschen zu ihrer Großdemonstration nach Berlin gefolgt sind. So ein Mobilisierungspotenzial hat derzeit keine andere Partei.
Dazu lässt es sich kaum voraussagen, wie sich die aktuelle Krise weiterentwickelt, und wie genau die Rettungspakete der Bundesregierung einzelne Haushalte am Ende entlasten und Unternehmen durch die Krise bringen. Aber geht es Deutschland schlecht, nutzt es der AfD. Diese Kausalität greift zu dieser blauen Stunde wieder: In der Partei ist sie als politische Gewissheit weit verbreitet. Darauf basiert das erfolgreiche Strategiemodell ihres Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland.
Öffentlich wurde diese Gewissheit als Leitmotiv erst durch einen seiner engsten Vertrauten, Christian Lüth. Als Pressesprecher der AfD-Bundestagsfraktion hatte er sie vor zwei Jahren salopp in einem verdeckt geführten Gespräch mit einer YouTuberin formuliert, das ProSieben zunächst in einer Dokumentation veröffentlich hatte. "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD. Das ist natürlich scheiße, auch für unsere Kinder (…) Aber wahrscheinlich erhält uns das." Zeit Online machte schließlich den Namen ihres Gesprächspartners Christian Lüth öffentlich. Dieser musste darauf gehen. Aber die AfD-Weisheit hat in der Partei bestand.
Die Rechte hat die soziale Frage gekapert
Jetzt ist es also wieder so weit, dem Land geht es augenscheinlich schlecht. Teuerungen und eine prognostizierte Rezession treiben die AfD an. Schon in den Wochen vor der zentralen Kundgebung in Berlin gab sie in der Krise ein ungewohnt geeintes Bild ab. Aus vielen Parteigliederungen von überall in Deutschland reisten ihre Anhänger in die Hauptstadt. Auch viele Aktivisten der außerparlamentarischen Bewegung folgten dem Ruf "Unser Land zuerst!", darunter zahlreiche Rechtsextremisten, Anhänger von Pegida, aus dem Querdenker-Netzwerk, Reichsbürger und Montagsspaziergänger, die vielerorts im Osten den Protest gegen die Bundesregierung auf die Straße bringen, gegen Flüchtlinge, gegen Corona-Maßnahmen, gegen die Preisexplosionen in der aktuellen Krise.
Der AfD gelingt es, all diese Leute auf ihre Sache zu vereinen, und sie - zumindest bei den eigenen Kundgebungen - so zu disziplinieren, dass diese ein überwiegend friedliches Bild abgeben. Ob bei AfD-Demonstrationen wie zuletzt in Gera, Magdeburg, Cottbus oder eben in Berlin. Dahinter steckt die jahrelange Verzahnung mit Demonstrationsinitiativen, Protestunternehmern und alternativen Medien, die sich jetzt wieder auszahlt. Und der die - im Gegensatz dazu - gespaltene Linke in der Krise nichts entgegenzusetzen hat. Der Protest in der Krise ist rechts. Die Rechte hat die soziale Frage gekapert. Diesen Schluss zieht deshalb die linke taz [taz.de].
Landauf landab strapaziert die AfD das Thema vom "heißen Herbst", vor allem in Ostdeutschland. Gleiches brachte ihr schonmal Auftrieb als Bewegungspartei, den sie nun wiederholen will: Einen "heißen politischen Herbst" hatten bereits die damaligen Bundesvorsitzenden Frauke Petry und Alexander Gauland am Ende des Sommers 2015 ausgerufen. Gleich nachdem ein erster deutlicher Anstieg bei den Flüchtlingszahlen verkündet worden war: Eine Kampagne, die einige Monate später in großen Wahlerfolgen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt mündete.
Innere Zerstrittenheit steht AfD im Weg
Das Einzige, was der AfD bei ihrem Erfolg in der Krise im Weg stehen kann, ist die innere Zerstrittenheit. Auch das ist Teil der parteiinternen Gewissheit. Da passt es gut, dass man sich rechtzeitig vom ehemaligen Co-Vorsitzenden Jörg Meuthen getrennt hat (oder er sich von der AfD). Hatte er schließlich das Konzept der Bewegungspartei mit rechtsextremen Bündnispartnern in letzter Konsequenz nicht mitgetragen. Überdies hat der Hochschullehrer aus NRW die politische Verfasstheit des Ostens nie entscheidend berücksichtigt, die für den Erfolg der AfD wesentlich ist. Vielleicht hat er sie nie verstanden.
Anders seine Nachfolgerin in der Doppelspitze der AfD, Alice Weidel. Schrieb ihr Co-Vorsitzender, der Sachse Tino Chrupalla, auf der Kundgebungsbühne in Berlin dem grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Schuld für einen "Wirtschaftskrieg" gegen Russland zu, bediente Alice Weidel in ihren öffentlichen Äußerungen schon seit Wochen die Einstellungen derer, die nicht zufrieden mit der Demokratie sind (ARD DeutschlandTrend 63 Prozent im Osten) und sich mehr Zurückhaltung der Bundesregierung gegenüber Russland wünschen (ARD DeutschlandTrend 60 Prozent im Osten).
Schon als sich die blaue Stunde ihrer Partei in der Krise abzeichnete, zog sie bei einem Auftritt in Cottbus Anfang September eine vierstellige Zahl an Zuhörern auf den Oberkirchplatz, die sie mit ihrer Rede mehrheitlich begeisterte. Eine Redeausschnitt im Wortlaut zeigt, wie die blaue Stunde in der Krise schlägt:
"Eine grüne Außenministerin, unsere Annalena (…) 'wir stehen zur Ukraine', hat sie gesagt, in ihrem gebrochenen Englisch irgendwo in der Pampa. Dummerweise stehen da ein paar Kameras: 'Huch, habe ich gar nicht gesehen! Ich habe doch etwas ganz Anderes gesagt'. Aber sie hat den entscheidenden Satz gesagt: 'Egal was meine Wähler in Deutschland denken'. Und das denkt die ganze Bundesregierung: 'Egal was unsere Wähler denken'. Und das schlimme ist, es sind ja gar nicht deren Wähler, die wussten genau, was sie wählen. Uns tut es so leid um die Millionen von Wählern, die diese Chaotentruppe, diesen Quatsch-Comedy-Club nicht gewählt haben (…) und wir haben es in der Hand, diese Verhältnisse zu ändern! Da haben wir eine Chefdiplomatin, deren einzige Berufserfahrung ein Praktikum bei der Kreiszeitung ist. Und die macht jetzt heute hier ganz große Weltpolitik, und sagt: Meine Wähler sind mir scheißegal! Das ist so eine Abgehobenheit und Arroganz, die dahintersteckt!"
Sendung: rbb24 Abendschau, 09.10.2022, 19:30 Uhr