Ostdeutsche in Führungspositionen - "Ich weiß, dass ich mit dieser Karriere eine von wenigen bin"

Westdeutsche dominieren die Eliten auch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung: In weniger als zwei Prozent der bundesdeutschen Chefsessel sitzt jemand aus dem Osten. Die Ost-Berlinerin Jeannette Gusko ist mit ihrer Karriere eine Ausnahme - noch. Von Anne Kohlick
"Es fühlt sich an wie eine große Ungerechtigkeit", sagt Jeanette Gusko. Es treibe sie die Frage um, wie es sein kann, dass rund 22 Prozent der Deutschen eine Ost-Biografie haben, "und dann sind nur 1,7 Prozent aller Führungspositionen mit Ostdeutschen besetzt?" Wenn die Berlinerin über Ungleichheiten zwischen Ost und West spricht, liegt Wut in ihrer Stimme – aber auch Mut und Optimismus, an dieser Situation etwas zu verändern.
Seit September ist die gebürtige Ost-Berlinerin Geschäftsführerin des Recherchezentrums Correctiv. "Das ist mittlerweile meine dritte Führungsrolle", erzählt die 38-Jährige, "aber ich weiß, dass ich mit dieser Karriere eine von wenigen bin." Eine von zu wenigen ostdeutschen Chefs und Chefinnen.
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Sie war fünf Jahre alt, als die Mauer fiel
Jeannette Gusko ist in Berlin-Lichtenberg in einem Plattenbau aufgewachsen. Fünf Jahre alt war sie, als die Mauer fiel. "Teil einer ostdeutschen Arbeiterfamilie zu sein - das hat als Jugendliche meine Vorstellung davon geprägt, wer ich künftig sein werde", erinnert sie sich. Die Berufsberatung empfahl ihr eine Ausbildung zur Floristin, ihre Eltern hätten einen Job als Bankkauffrau gut gefunden.
Kein Umfeld, in dem schnell Träume wachsen, einmal hoch hinaus zu kommen - in eine Führungsposition. "Ich glaube, diese Vorstellungslücke ist etwas, das anders ist gegenüber Menschen aus meiner Generation, die in Westdeutschland groß geworden sind", sagt Jeannette Gusko heute.
Die Lage hat sich zuletzt verschlechtert
Der Soziologe Raj Kollmorgen erforscht an der Hochschule Zittau/Görlitz, worin die Ursachen liegen für die seit der Wiedervereinigung andauernde Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Chefsesseln. Zuletzt hat sich die Lage sogar verschlechtert - zumindest wenn man die Leiterinnen und Leiter der 100 führenden Unternehmen im Osten betrachtet sowie ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Eine neue Datenerhebung der Universität Leipzig zeigt, dass die Zahl der Ostdeutschen in diesem Personenkreis seit 2017 abgenommen hat [Studie als PDF | ostdeutscheswirtschaftsforum.de].
Raj Kollmorgen wundert das nicht. "Lange war der Grundtenor: Das wächst sich aus, da müssen wir nur noch ein bisschen warten. Es gab das Problem der unterschiedlichen Qualifikationen und Abschlüsse zwischen BRD und DDR, aber mit der neuen Generation, da wird alles flutschen" – so erklärt der Soziologe, wie man sich die Ungleichheiten lange habe schön reden wollen. "Spätestens jetzt - über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung - wissen wir, dass es nicht so ist." Die Unterschiede zwischen West und Ost erledigen sich nicht von selbst.
Die Wiedervereinigung: ein Beitritt der DDR zur BRD
Die wichtigste Ursache für die bis heute ungleich verteilten Führungspositionen sieht Kollmorgen darin, wie 1990 die deutsche Einheit organisiert wurde. "Das Ganze war ein Beitrittsverfahren, in dem die Institutionen und die Ordnung der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR erstreckt wurden." Somit galten alle Regeln weiter, die vorher in der Bundesrepublik galten - alle Normen und Abschlüsse aus der DDR dagegen waren über Nacht nicht mehr gültig.
Das hatte einen Elitentransfer zur Folge, der in den 90er Jahren tausende Führungskräfte aus dem Westen in den Osten brachte - zum Beispiel um die neue kapitalistische Wirtschaft aufzubauen und Verwaltungsstrukturen nach westdeutschem Vorbild zu schaffen. Von diesen neuen Spitzenpositionen im Osten seien die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger erstmal praktisch ausgeschlossen gewesen, sagt Kollmorgen: "Es gab in der DDR gar nicht die Abschlüsse, die erforderlich gewesen wären - und auch heute im Regelfall noch sind - um in solche Positionen aufzusteigen."
Berufserfahrung in den West-Institutionen fehlte
Auch die Berufserfahrung in den West-Institutionen, die nach 1990 für die meisten Spitzenjobs Einstellungsvoraussetzung wurde, habe Menschen aus dem Osten gefehlt, so der Forscher. Jemand, der oder die bis 1990 noch nie eine Bundesbank von innen gesehen hätte, habe schlecht in den Folgejahren deren Chefin oder Chef werden können.
Die Erfahrung, die Ostdeutsche stattdessen in den 90er Jahren vielerorts machten: geschlossene Betriebe, Arbeitslosigkeit. Auf gleichwertige Posten wie zu DDR-Zeiten schafften es viele im wiedervereinigten Deutschland nie wieder. Das war auch bei der Mutter von Jeannette Gusko so: "Sie hat in der DDR als Textilingenieurin gearbeitet", erzählt die Tochter, "aber in diese Form von befriedigender Arbeit, die sie kannte aus ihrer Erwerbsbiografie, hat sie 1990 nicht mehr finden können."
"Mindestens zwei Generationen der Ostdeutschen nachhaltig verunsichert"
Auch der Soziologe Raj Kollmorgen, gebürtiger Leipziger, erinnert sich: "Anfang der 90er hatten wir gebietsweise 20, in Teilen 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Diese Erfahrung hat nicht nur eine, sondern mindestens zwei Generationen der Ostdeutschen nachhaltig verunsichert." Ein wesentlicher Ratschlag von Eltern an ihre Kinder sei deshalb - bis tief in die Mittelschichten hinein - gewesen: "Orientiere dich mal nicht an diesen höchsten Positionen. Da oben ist die Luft dünn und du kannst an deinen eigenen Eltern verfolgen, welche Brüche möglich sind."
Studien zeigen laut Kollmorgen bis heute Unterschiede zwischen den beruflichen Ambitionen ost- und westdeutscher Jugendlicher: Im Osten sei man "schlicht und ergreifend vorsichtiger und zurückgenommener, defensiver. In Situationen, die erforderten, dass jemand die Hand hebt und sagt: Ich will, ich kann, ich mute mir das zu! Dann standen die Ostdeutschen auch aus sich selbst heraus zurück", analysiert der Soziologe. "Man kann von einer Art kulturellen Selbstmarginalisierung sprechen - das bedeutet, dass man sich auch selbst in den Ansprüchen beschneidet."
Sicherheitsbedürfnis der Ost-Eltern
Jeannette Gusko sagt, es habe sie viel Kraft gekostet, sich in ihrer Studienzeit nach und nach freizumachen vom großen Sicherheitsbedürfnis ihrer Eltern, das sie auch selbst übernommen hatte: Obwohl sie es mit ihrem 1,7-Abitur locker an eine Universität geschafft hätte, hat sie ihren Bachelor an einer Fachhochschule gemacht - lieber was Handfestes, Wirtschaft und Kommunikation.
Aus einer Ostfamilie mit wenig Geld zu kommen, war für ihre Karriere immer wieder ein Hindernis, zum Beispiel als sie sich für ein Master-Studium in Tübingen bewarb. "Ich konnte mir die 160 Euro für das ICE-Ticket nicht leisten, um zum Vorstellungsgespräch zu kommen, und bin stattdessen über Nacht mit der Mitfahrzentrale gefahren", erinnert sie sich. "Das war ein Transporter voller Ein-Euro-Sonnenbrillen. Und morgens um acht - nach einem kurzen Frischmachen in der Uni-Toilette - stand ich zwischen all den anderen Bewerber:innen. Als ich dann meinte: Ich komm aus Berlin - da war ich nicht nur diejenige mit dem weitesten Weg, sondern wieder mal die einzige Ostdeutsche vor Ort."
Netzwerke der Macht reproduzieren sich selbst
Ähnliche Erfahrungen habe sie auch bei Praktika anderswo im Westen gemacht: Westdeutsche unter sich, sie - die eine "Fremde" aus dem Osten. Dass die Lage so ist, hat auch mit einer besonderen Eigenschaft von Eliten zu tun, die Raj Kollmorgen erforscht: Wer im Chefsessel sitzt, wählt als Nachfolgerin oder Nachfolger meist eine Person aus, die ihm oder ihr selbst ähnlich ist. "Man spricht in der Wissenschaft von einer Selbstrekrutierung der Eliten", erklärt der Soziologe, "von Netzwerken der Macht. Diejenigen werden in Führungsposition berufen, die entweder schon in diesem Netzwerk drin sind oder sich zumindest in der Nähe befinden – Menschen, die man kennt, die man glaubt, einschätzen zu können."
Deshalb bliebe die westdeutsch geprägte Elite, die seit den 90er Jahren auch im Osten dominiert, bis heute nahezu konstant. Denn Ostdeutsche würden von diesen Führungskräften als eher fremd empfunden, sagt Kollmorgen - und deshalb in der Tendenz bei Bewerbungen eher nicht ausgewählt. Der gleiche Mechanismus der Ähnlichkeit benachteiligt Frauen und Menschen mit anderen Hautfarben, denn bislang entscheiden eher männliche, weiße Chefs.
"Eine Frage von Sichtbarkeit und von Empowerment"
Jeannette Gusko ist überzeugt, dass sich daran etwas ändern muss: "Ich bin allergisch gegenüber Ungerechtigkeiten und ich habe den Eindruck, dass wir für sozialen Kleber in unserem Land eine gerechtere Repräsentation bräuchten." Seit 2010 engagiert sie sich dafür ehrenamtlich beim Netzwerk dritte Generation Ost [dritte-generation-ost.de].
Die Organisation bringt Ostdeutsche zusammen, die zwischen 1975 und 85 geboren sind - eine Generation, die jetzt im Alter ist, Führungspositionen zu übernehmen. Das Netzwerk teilt Wissen und Connections, um die Karrierechancen von Ostdeutschen zu verbessern. "Es ist eine Frage von Sichtbarkeit und auch von Empowerment", sagt Jeannette Gusko. "Ich hatte hier beim Netzwerk mein ostdeutsches Awakening: Ich habe verstanden, dass da andere sind, die teilen die gleichen Erfahrungen wie ich! Davor habe ich mich oft eher vereinzelt gefühlt – eben weil ich in so vielen Situationen die einzige Ostdeutsche war."
Ostdeutsche sind nur eine von vielen benachteiligten Gruppen
Der Austausch hat Jeannette geholfen, sich hochzuarbeiten: 2012 hat sie den deutschen Ableger von change.org mitaufgebaut, eine Online-Plattform für Petitionen. Später war sie Geschäftsführerin beim Crowdfunding-Anbieter "Go Fund Me" für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
In ihrer neuen Führungsrolle bei Correctiv geht es Jeannette Gusko auch darum, ein diverses Team zu fördern und bislang benachteiligten Gruppen Aufstiegschancen zu geben: "Aus meiner eigenen biografischen Erfahrung, ostdeutsch zu sein, ziehe ich auch diese Verantwortung - auf die Menschen zu schauen, die an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt wurden."
Sendung: rbb24 Abendschau, 29.09.2022, 19:30