Wie war 2022 noch mal? - Eine Bilanz mit Maske daneben

Sa 31.12.22 | 15:56 Uhr | Von Stefan Ruwoldt
Symbolbild: Eine OP-Maske liegt am Abend vor einer Altstadtkulisse. (Quelle: dpa/R. Michael)
Bild: dpa/R. Michael

2022 war ein Jahr, in dem nichts so richtig beendet wurde und aus dem wir sehr viel mit ins neue Jahr schleppen. Also: ein Jahr zum vergessen? Oder zum nie vergessen? Zumindest fallen einem gute neue Vorsätze ein. Oder Vorsätze für neue Vorsätze. Von Stefan Ruwoldt

2022 war das Jahr, in dem Berlin sein 20.000-Wohnungen-Neubau-Ziel geschafft hätte ... wenn das Jahr 16 Monate gehabt hätte. 2022 war das Jahr, in dem der 1. FC Union Champions League gespielt hätte ... wenn RB Leipzig am letzten Bundesliga-Spieltag im Mai 0:30 oder 1:31 verloren hätte. Und 2022 war auch das Jahr, in dem Berlin über Klagen gegen die Wahlleitung der Stadt gelacht hätte. Wenn es seine Wahlbüros besser organisiert hätte.

Brandenburgs Erfolgsbilanz ist ein ähnliches "hätte"-Festival. Brandenburg hätte sich mit seiner Jugendlichkeit gebrüstet - wenn es nicht auch in 2022 wieder die Überalterungstatistik angeführt hätte. Auch wäre 2022 für Brandenburg fast ein Versorgungswunderjahr geworden, schließlich fördert das Land ja ganz besonders junge Ärzte. Allerdings war Brandenburg auch 2022 wieder Schlusslicht bei der Ärztedichte. Und Brandenburg könnte so ein schönes sonniges Urlaubsland sein mit den bundesweit geringsten Frühjahrsniederschlagsmengen. Wären da nicht auch die bundesweit meisten Waldbrände.

Keine guten Ratschläge

Wie blickt man am besten auf ein Jahr zurück, wenn man keine guten Hinweise und Ratschläge hat für mehr Brandschutz, für mehr Mediziner, für mehr Tore oder für eine bessere Wahlbüro-Organisation? Und wie blickt man auf ein Jahr zurück, in dem eigentlich all diese lokalen Jahresbilanzen unwichtig werden, weil wenige hundert Kilometer östlich ein Krieg tobt, dessen Grausamkeit sich die meisten von uns sicher trotz aller Beschreibungen, Bilder und Dokumentationen kaum vorstellen können. 2022 war das Jahr, in dem am Hauptbahnhof zehntausende Kriegsflüchtlinge eintrafen, während wir unsere Koffer Richtung Gleis 8 zogen - zum ICE an die Ostsee.

Ein Jahr der neuen Freiheit - ganz kurz

Vielleicht sollten wir uns einen moralischen Rückblick leisten - eine Bilanz, die mit Corona anfängt, ein bisschen was mit Fußball zu tun hat und auch wieder am Bahnhof endet. Und an dessen Ende wir genau wissen, was 2023 zu tun ist?

Es war zum Beginn dieses Jahres, dass die Corona-Maßnahmen infrage gestellt wurden. Aus verpflichtenden Tests wurden freiwillige Tests. Der Einzelhandel sah in Masken- und Impfnachweispflichten umsatzschädigende Kaufhindernisse und Berlins Fußballvereine wollten wieder Fans auf den Rängen - sie forderten, doch endlich auf sie zu hören. Vorsicht wurde als etwas definiert, das für die Über-70-Jährigen galt. Die Berlinale war so eine Art Ach-es-wird-schon-wieder-Veranstaltung: Auf die Bühne ging's mit Maske, bei den Danksagungen an den Mikrofonen pappte bei vielen die Maske nur noch am Handgelenk. Es war Mitte Februar. Es sollte das Jahr einer neuen Freiheit werden.

Die Maske zum Film

Fünf Tage später sprach keiner mehr über Masken und Filme. Es war Krieg. Erst das Entsetzen über rollende Panzer und über Raketen, die niedergingen auf Neubauten ähnlich denen im Märkischen Viertel oder Hohenschönhausen. Dann neue Fronten. In der Bekanntschaft wurden bizarre Grundsätze aufgestellt, etwa dass es politisch inkorrekt ist, Pelmeni zu essen. Alles wurde infrage gestellt. Besonders schnell fällig wurden diejenigen, die sich jahrelang bemüht hatten, auch den Osten hinter Polen miteinzubeziehen - sie bekamen Namen wie Russland-Versteher oder Putin-Freunde. Neue Experten wurden jene, die die sowjetischen Panzer am Tiergarten als klare Pro-Russland-Belege identifizierten. Und Deutschland erspendete sich mit Rekordsummen ein gutes Gewissen.

In den Stadien wurde wieder viel geherzt

Der Sommer änderte die Perspektive ein wenig: Es gab endlich mehr Fußball für die, die ihn wieder sehen wollten und weniger Krieg für die, die ihn nicht mehr sehen wollten. Die Bundesliga schien dabei seltsam verwunschen. Drei Mannschaften kämpften um die Champions-League-Teilnahme, die sieben Jahre zuvor in Liga zwei gegen Heidenheim, Fürth und den FSV Frankfurt um Aufstiegspunkte gespielt hatten. Es wurde nach langer Pause viel in den Stadien gejubelt und geherzt. Man konnte es wieder. Endlich.

Doch der Krieg war immer noch da, schlimmer als vorher. Und dass Sandro Schwarz nun in Berlin statt bei Dynamo Moskau das Training lenkte, war kein Friedensdienst, sondern der Pragmatismus der Monate. Wer es sich leisten konnte oder einfach nur Glück hatte, zog schlicht ein paar hundert Kilometer gen Westen und spielte dort weiter. Unter neuer Fahne. Die Geflüchteten, die mit dem Zug aus der Ukraine kamen, wurden nun neu geordnet, dann an der Bahnhofsrückseite registriert und zu Bussen geleitet. Vorn fuhren die Taxis die Urlauber zurück nach Friedrichshain und Lichtenrade.

Neue Aufrufe, aber weniger Spenden

Der Herbst kam und es gab neue Aufrufe, die keine Milliarden mehr brachten. Die Ukrainer, die es bis Deutschland geschafft hatten, wohnten jetzt nebenan. Ukrainisch überall, in der Regionalbahn und beim Penny. Vor Russlands Botschaft durfte keiner mehr auf den Bürgersteig.

Überall neue Fronten. Selbst wenn man nur zuhause bleibt und nachdenkt: Dürfen wir einfach so weiter heizen? Uns über Benzinpreise aufregen und Wodka trinken? Es ist schwer, auf ein Jahr zurückzublicken, das eigentlich nur Ratlosigkeit und Trauer gebracht hat, weil man eben das ganze Jahr alles falsch gemacht hat.

Jahresrückblicke sind wahrscheinlich immer moralisch. Es ist leicht, Ende Dezember sicher zu sein, dass manche Entscheidungen von Januar oder August falsch waren. Vielleicht können wir versuchen, 2023 mehr Sätze zu produzieren mit "Wir sind..." oder "Wir haben...", ohne aber ein "hätte" und ein "wäre" hinterherschicken zu müssen. Grammatische Vorsätze. Die Moral wird damit klarkommen.

Beitrag von Stefan Ruwoldt

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