Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz - Berlin richtet zusätzliches 11. Schuljahr ein - Unterricht an Berufsschulen

Do 22.06.23 | 14:47 Uhr | Von Agnes Sundermeyer und Kirsten Buchmann
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Symbolbild: Ausbildung in einer Berufsschule (Quelle: dpa/Jochen Eckel)
Audio: rbb24 Inforadio | 22.06.2023 | O-Ton Maja Lasic, bildungspolitische Sprecherin der SPD | Bild: dpa/Jochen Eckel

Jugendliche, die nach der 10. Klasse keinen Ausbildungsplatz oder weiterführenden Schulplatz haben, sollen in Berlin weiter zur Schule gehen. So will es der neue Senat. Betroffen wären etwa zehn Prozent eines Jahrgangs. Von A. Sundermeyer und K. Buchmann

  • Ab dem Schuljahr 2024/25 soll das 11. Pflichtschuljahr kommen - für Zehntklässler ohne konkrete Perspektive
  • Unterrichtet wird voraussichtlich an Berufsschulen
  • Woher das Lehrpersonal kommen soll, ist noch unklar
  • Es könnte auch außerschulische Fortbildungen geben

Es ist sommerlich schwül im Klassenraum der 10. Klasse der Friedensburg-Oberschule in Charlottenburg. Noch haben die Jugendlichen hier Unterricht in Gesellschaftswissenschaften - schon bald werden sie aber den stickigen Klassenraum hinter sich lassen. Für die Zeit nach der 10. Klasse haben sie ganz unterschiedliche Pläne: Von den rund 220 Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs wollen zwei Drittel in der gymnasialen Oberstufe weiterlernen. Die meisten anderen starten eine Ausbildung - doch nicht alle.

Schüler nicht durchs Raster fallen lassen

Für zehn Jugendliche sei aber noch nicht ganz klar, wie es weitergeht, sagt Schulleiter Sven Zimmerschied. Für sie fände er ein 11. Pflichtschuljahr gut. Das Positive sei "mit Sicherheit, dass man diese Schüler, die abgehen und nichts haben und nichts machen, im Bildungssystem behält."

So schaffe man vielleicht doch die Möglichkeit, dass sie sich in dem Jahr "neu aufstellen und vielleicht doch einen Ausbildungsplatz finden." Schulleiter und Schüler sind sich da offenbar einig. Denn auch der 16-jährige Seymen, der nach den Sommerferien eine schulische Ausbildung zum Metallbauer beginnen möchte, findet ein 11. Pflichtschuljahr gut. "Das ist wie eine zweite Chance für die Leute, die sehr viel recherchiert aber nichts gefunden haben."

"Wie eine zweite Chance"

Seymens Schulfreund Kassem nickt. Er hat ebenfalls schon konkrete Pläne, will auf ein Oberstufenzentrum wechseln, um einen bessern Abschluss zu schaffen. Auch er sieht ein 11. Pflichtschuljahr für alle ohne Anschlusspläne als eine echte Chance: "Viele könnten dann mehr Lernen. Zum Beispiel die, die bis zur 10. Klasse nicht so viel gemacht haben, hätten ein 11. Schuljahr, wo sie das nachholen könnten."

Klassenleiterin Larissa Heiligenstedt hat schon Schülerinnen und Schüler unterrichtet, denen ein 11. Pflichtschuljahr geholfen hätte. Allerdings sollte das aus ihrer Sicht anders aufgebaut sein, als die 10. Klasse, um den Jugendlichen eine bessere berufliche Orientierung zu geben. Der Übergang auf die Berufsausbildung könne "intensiver gestaltet werden, indem man die Schüler mehr auf die Praxis vorbereitet." Mehr "Input durch Praktika" und nicht rein durch die Unterrichtsfächer der 10. Klasse, das wünsche sie sich für ihre Schüler, so Heiligenstedt.

Enger Zeitplan

Ab dem Schuljahr 2024/25 will die schwarz-rote Koalition in Berlin das 11. Pflichtschuljahr einführen - für die, die nach der 10. Klasse weder einen Ausbildungsplatz noch andere Perspektiven haben. Derzeit betrifft das rund zehn Prozent eines Jahrgangs, also berlinweit gut 3.000 Jugendliche. Der Zeitplan der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch sei ambitioniert. Da sind sich Schulleiter und Lehrerin einig. Klar ist bis jetzt nur, dass die neuen Klassen bei den 46 Berliner Berufsschulen angesiedelt sein sollen.

Unklar ist aber bisher, woher das Personal bei dem in Berlin chronischen Lehrkräftemangel kommen soll. Ronald Rahmig, Vorsitzender des Berufsschulleitungsverbands, sieht beim 11. Pflichtschuljahr nicht ausschließlich die beruflichen Schulen, sondern auch die Sekundarschulen in der Pflicht.

Ein Punkt ist dem erfahrenen Berufsschulleiter dabei besonders wichtig: Es ginge längst nicht nur um die berufliche Orientierung, sondern auch um das "Nachrüsten" in Grundkenntnissen. "Die Schülerinnen und Schüler müssten alle in Klasse 10 bestimmte Standards erfüllen. Das tun sie im Moment aber flächendeckend nicht." Deutsch, Mathe, Englisch – das sei "nicht bei allen so, wie es sein sollte. Viele sind noch gar nicht in der Situation, dass man mit ihnen belastbar über eine Berufsausbildung sprechen kann."

"Es sind Schüler, die Unterricht schwänzen"

Das räumt auch der Schulleiter der Friedensburg-Oberschule, Sven Zimmerschied, ein. "Es sind Schüler, die Unterricht schwänzen, mit häuslichen oder auch gesundheitlichen Problemen. Die treffen dann da in einer Klasse zusammen an der Berufsschule. Da braucht es sozialpädagogisch, wenn nicht sogar psychologisch geschultes Personal. Aber das ist ja für die Berufsschulen auch schwer, das entsprechende Personal zu finden."

Senatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) steht beim 11. Pflichtschuljahr also vor einer dreifachen Herausforderung. Es geht nicht nur darum, mehr Personal zu finden. Sondern auch darum, qualifizierte Lehrkräfte zu haben, die "schwierige Fälle" gezielt unterstützen können. Das alles bei einem Mangel von rund 1.460 Lehrerinnen und Lehrern, die trotz Verbeamtung jetzt schon fehlen. Dazu kommt, dass ein Konzept für das 11. Schuljahr erst ausgearbeitet werden muss. Für die Senatorin steht fest: "Es ist kein Schuljahr, sondern wir wollen auf die Berufe gezielt vorbereiten, mit Maßnahmen, die es schon gibt. Dazu zählen die überbetriebliche Ausbildung und die integrierte Berufsausbildungsvorbereitung."

Das ginge aber nur mit "starken Partnern aus der Wirtschaft", mit denen sei man im Gespräch. Um Lehrpersonal für die 11. Klassen zu bekommen, möchte Günther-Wünsch neben Quereinsteigern und Seiteneinsteigern auch Ein-Fach-Lehrkräfte zusätzlich qualifizieren. Außerdem sollen ausländische Pädagogen im Schulsystem unterstützen. Die Arbeit muss Günther Wünsch den angehenden Lehrkräften der 11. Klassen den Unterricht allerdings auch schmackhaft machen. Die Erfahrung in Brandenburg hat gezeigt, dass der Unterricht in den 11. Klassen wegen der eher "schwierigen Klientel" nicht besonders beliebt ist.

Keine reine Wiederholung der 10. Klasse

Senatorin, Schulleiter, Schüler und Klassenlehrer sind sich alle einig: Auf keinen Fall sollten die Schülerinnen und Schüler ein weiteres Jahr im Klassenraum absitzen. Um genau das zu verhindern, sind dem schulpolitischen Sprecher der Grünen, Louis Krüger auch Lernorte außerhalb der Schule wichtig - ganz nach Bedarf der Jugendlichen. "Das können auch informelle Bildungseinrichtungen sein, wie das 'Street College' in Friedrichshain Kreuzberg, wo mit den Jugendlichen gerappt wird und mit ihnen auf andere Art und Weise umgegangen wird, als im bisherigen Schulsystem", so Krüger.

Schon nächstes Jahr nach den Sommerferien soll also kein Jugendlicher mehr ohne Ausbildungsplatz oder andere Perspektive auf der Straße stehen. Wer nichts hat, hat die 11. Klasse: Wie dort Unterricht aussehen kann und wer ihn gibt – das bleiben dringende Hausaufgaben auf dem Tisch der Koalition.

Sendung: rbb24 Inforadio, 22.06.2023, 07:00 Uhr

Beitrag von Agnes Sundermeyer und Kirsten Buchmann

54 Kommentare

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  1. 54.

    Wann endet die gestzliche Schulpflicht? Nach der 8.? Bekommt man nicht mit nicht bestandener 10.-Kl.-Abschluss doch noch den HSA? Ist solch eine "Pflicht" überhaupt gesetzeskonform, GG?

  2. 53.

    Das künstlich angehängte "Schuljahr" verschiebt und verstärkt damit das Problem, dass breite Kreise in das bisherige Beschulungssystem nicht passen. Das System ist nicht reparaturfähig. Es kommen ja immer mehr Analphabeten aus aller Welt ins Land.

  3. 52.

    Das künstlich angehängte "Schuljahr" verschiebt und verstärkt damit das Problem, dass breite Kreise in das bisherige Beschulungssystem nicht passen.

  4. 51.

    Und wieder melden sich viele, um ihr Halbwissen preiszugeben:
    Eingeschult wird, wer im Kalenderjahr der Einschulung sechs wird, sofern er als schulfrei eingeschätzt wird. Due hohe Zahl der Rückstellungen betraf bisher die jüngeren nur zu geringem Anteil.
    10. Klasse freiwillig wiederholen geht auch schon. Praktika ebenso. Kann man auch freiwillig und zusätzlich zu den schulisch vorgegebenen Zeiten machen.
    Es wird wieder am völlig kaputten System repariert anstatt das System neu aufzustellen

  5. 50.

    Diese Schüler konnten schon immer den Antrag auf freiwillige Wiederholung der 10. Klasse stellen und meist an ihrer Schule bleiben. Die meisten haben den Abschluss in der 2. Runde gepackt.
    Man könnte denken, das Schulgesetz ist nicht allen Schulen bekannt oder wird (aus nachvollziehbaren) Gründen nicht überall angewendet.

  6. 49.

    ist aber nicht Pflicht. Sollte es auch nicht werden, weil man es den Lehrern nicht zumuten kann.

  7. 48.

    .. und dieses qualifizierte Personal soll durch die Schnellbesohlung sog. Ein-Fach-Lehrkräfte geschaffen werden... Denkfehler! Dafür braucht es chatismatische, durchsetzungsstarke, engagierte und empathische Leute.
    Leidet kapitulieren aber viele Quereinsteiger und auch altgediente Lehrkräfte wegen der angesprochenen Probleme, weil sie Fachwissen weitergeben möchten und sich nicht auseinandersetzen wollen mit den vielen psychischen, sozialen, familiären etc. Problemen, die die Kids mitbringen,

  8. 47.

    mit 15/16 Lehre anfangen, arbeiten gehen, Rente einzahlen, 45-51 Jahre arbeiten. Eben wie wir Geburtenstarken Jahrgänge!
    Ist das sooooo schwer? Diese mediale Reizüberflutung kostet den Schülern die Zukunft. Und am Ende sind wir Schuld andere Ideale haben/hatten und zählen als raffgierig .-)

  9. 46.

    Verstehe die Aufregung nicht. Eigentlich gibt es doch bereits schon das 11. Schuljahr an den OSZ, in Berlin. Nennt sich IBA und wird von den beschriebenen Jugendlichen genutzt, um ein weiteres Jahr in der Schule zu sein. Manchen gelingt damit die Verbesserung des Schulabschlusses andere entdecken einen Ausbildungsplatz. Unterstützung gib es durch Bildungsbegleier*innen. Also nix Neues.

  10. 45.

    "Die Regelstudienzeit ist bindend."

    Danke für diesen Lacher! War ein harter Tag. Aber mit Verlaub, Sie können bisher keine Uni von innen gesehen haben.

  11. 44.

    Anspruch auf Kindergeld besteht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr, mit der 10. Klasse sollte das eigentlich noch ein Stück entfernt liegen ;)

  12. 43.

    Naja, in der 1. und 2. Klasse geht's m.E. noch mit Interesse und Lust ...
    und wenn die Eltern "mitspielen" evtl. noch etwas länger.
    Erst wenn durch Sprache, Klassengröße ect. Erfolge (Lesen, Schreiben) ausbleiben, nimmt "das Desinteresse und die Unlust" merklich zu.
    Der eine entwickelt sich dann zum "Klassenclown", der andere zum "Schläger" und der dritte zum "Verlierer".
    Ohne Bereitschaft und Willem - vorallem vom Elternhaus - dann eine Klasse zu wiederholen, dreht sich das Rad weiter.

  13. 42.

    " Woher das Lehrpersonal kommen soll, ist noch unklar " und wird wohl unklar bleiben, egal ob es der neue Senat.so will

  14. 41.

    „Klassenleiterin Larissa Heiligenstedt hat schon Schülerinnen und Schüler unterrichtet, denen ein 11. Pflichtschuljahr geholfen hätte.“ —> Hört sich nach absoluter Ausnahme an. Erwartungsgemäß.

  15. 40.

    " Frustration ist vorprogrammiert. "

    vorprogrammiert. scheint mir eher das Desinteresse und die Unlust etwas zu lernen , daraus folgt dann die persönliche Frustration

  16. 39.

    "
    Dazu braucht man [ ..... ] qualifizierte Lehrer, "

    und die fehlen , vielleicht nicht in HH aber in Berlin

  17. 38.

    Ich kann Ihnen nur zustimmen und möchte noch hinzufügen:
    Wer (spätestens) nach Ende der 2. Klasse nicht richtig lesen und schreiben kann, muss wiederholen.
    Ohne richtiges und verstehendes Lesen wird's auch nichts in anderen Fächern und Frustration ist vorprogrammiert.

  18. 37.

    Ergänzung zu meinem Kommentar, die Klassen werden in AV (Arbeitsvermittlung) und AVM
    ( Arbeitsvermittlung Migranten ) unterschieden.
    Es gelingt tatsächlich Schülern/innen zu pünktlichlichem Erscheinen, selbstständigen Praktikumsplatz/ Ausbildungsstelle zu suchen und anzufangen. Meine Tochter hat gute Erfahrungen mit diesen Klassen gesammelt, Probleme kommen aus dem Elternhaus, möchte nicht ins Detail gehen.
    Das ganze findet neben ihrer eigentlichen Aufgabe als Klassenlehrerin Touristik im Wechsel mit anderen Lehrern statt und wird in Hamburg mit A14 belohnt.

  19. 36.

    "Die Erfahrung in Brandenburg hat gezeigt, dass der Unterricht in den 11. Klassen wegen der eher "schwierigen Klientel" nicht besonders beliebt ist." Verständlich, das gros dieser Schüler hat doch keinen Bock auf Schule. Einfach eine katastrophale Etnwicklung. Damit sie nicht randalieren, auch ein Jahr länger "Kindergeld", denn sie sind ja noch in "Ausbildung".

  20. 35.

    Absoluter Blödsinn, Ihr Kommentar!
    Berlin erfindet um 1Jahrzehnt zu spät das Rad neu.
    Meine Tochter ist Berufschullehrerin (Schifffahrt und Touristik)
    In Hamburg endet die Schulpflicht mit dem 18. Lebensjahr, daher kommen alle Schüler/ innen zwangsläufig in die Berufsschule. Schwerpunkt Praktikumsplätze suchen, höherwertigen Schulabschluss anstreben , Unterricht mit Schwerpunkt soziale Kompetenz usw.

    Dazu braucht man keine Sozialarbeiter,sondern qualifizierte Lehrer, die nicht heile Welt verbreiten,sondern auch mal harte Kante zeigen.

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