Interview | Jüdischer Gemeindetag Berlin - "Wir wollen nicht hinter Panzerglas leben, sondern offen und einladend sein"

Do 14.12.23 | 07:46 Uhr | Von Ursula Vosshenrich
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Anna Staroselski. (Quelle: rbb)
Audio: rbb24 Inforadio | 14.12.2023 | Ursula Voßhenrich/Anna Staroselski | Bild: rbb

Etwa 1.000 Jüdinnen und Juden treffen sich am Donnerstag in Berlin zu ihrem Gemeindetag. Dabei soll es auch um Antworten auf den wachsenden Antisemitismus gehen. Welche Erwartungen junge jüdische Gläubige haben, erklärt Anna Staroselski.

rbb|24: Frau Staroselski, etwa 1.000 Jüdinnen und Juden aus ganz Deutschland werden sich ab Donnerstag in Berlin treffen. Drei Tage lang diskutieren sie, hören Vorträge, tauschen sich aus und feiern. Freuen Sie sich auf den Gemeindetag?

Anna Staroselski: Auf jeden Fall. Ich glaube, besonders in diesen Zeiten ist es ein schöner Anlass, zusammenzukommen und sich auszutauschen. Der Gemeindetag bietet die Möglichkeit, viele wichtige Themen zu besprechen und als Gemeinschaft zu feiern.

Es wird aber vor allem auch darum gehen, die jüdische Identität, das jüdische Leben und die Vielfalt des jüdischen Lebens gemeinsam zu feiern.

Zur Person

Anna Staroselski wurde 1996 in Stuttgart geboren. Ihre Eltern kamen in den 1990er Jahren als so genannte jüdische Kontingentsflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Staroselski studierte in Berlin Geschichte und war von 2020 bis 2023 Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion. Sie ist Sprecherin des Vereins Werteinitiative und Mitglied der FDP.

Die Diskussionsrunde, die Sie moderieren, trägt den Titel "Jung, jüdisch, direkt - Gemeindevertreter und junge Juden im Diskurs". Gibt es einen Generationenkonflikt oder zumindest unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie das Gemeindeleben funktionieren sollte?

Das gibt es immer. Junge Leute sehen die Welt oft anders als ältere Generationen. Dies ist auch die Zeit, in der junge Jüdinnen und Juden vielleicht mehr Einfluss in den jüdischen Gemeinden nehmen möchten. Oft stoßen innovative Ideen von jungen Jüdinnen und Juden, die sie in die Gemeinden einbringen wollen, auf Widerstand von etablierten Gemeindevertretern oder Strukturen. Dies erschwert es jungen Jüdinnen und Juden, aktiv am Gemeindeleben teilzunehmen. Es wirkt auch demotivierend, und es muss ein Weg gefunden werden, wie junge Jüdinnen und Juden für das Gemeindeleben gewonnen werden können.

Sie sind selbst 27 Jahre alt und kennen die Gemeinden gut. Die jetzige Generation der Gemeindeleitungen, größtenteils aus der ehemaligen Sowjetunion, ist als Einwanderer aufgewachsen. Sie als junge, deutsch-jüdische Generation haben einen ganz anderen Lebenshintergrund und stehen anders in Deutschland. Macht das einen großen Unterschied?

Das macht definitiv einen großen Unterschied. Die Erfahrungen mit der Gemeinde sind anders. Viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion kamen in den 90er Jahren nach Deutschland und wurden als jüdische Kontingentflüchtlinge Teil der Gemeinden. Damals musste eine Mehrheit in eine Minderheit integriert werden, da die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu dieser Zeit sehr klein waren.

Die etwa 200.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach Deutschland kamen, stellten plötzlich die Mehrheit dar. Viele von ihnen kannten aufgrund ihrer Erfahrungen in der Sowjetunion wenig vom Judentum. Meine Generation hingegen ist in den Gemeinden aufgewachsen, hat an Ferienfreizeiten der Gemeinden teilgenommen und dort ein stark identitätsstiftendes Element gefunden.

Aber aufgrund unseres jungen Alters haben wir natürlich auch andere Themen, die uns wichtig sind. Themen wie Diversität, Pluralismus und die Einbindung queerer Jüdinnen und Juden sind in den Gemeinden oft problematisch, da sie sich nicht akzeptiert fühlen. Auch die Sichtbarkeit junger Menschen in den Gemeindestrukturen, einschließlich Frauen. Das ist manchmal ein harter Kampf.

Das Motto des diesjährigen Gemeindetags lautet "Zusammenleben. Visionen für eine jüdische Zukunft." Was bedeutet dieses Motto in diesem Jahr für Sie?

In diesem Jahr muss man ehrlich sagen, dass die Ereignisse vom 7. Oktober, das Massaker, das die Hamas in Israel angerichtet hat, die Gemeinden und besonders Jüdinnen und Juden als Individuen in einen Schock versetzt haben. Man kann dieses Thema leider nicht ignorieren, wenn wir über Visionen und Zukunft sprechen.

Insbesondere, weil der Antisemitismus in Deutschland seitdem auf einem Höchststand ist und sich in einer Form zeigt, wie man es zuletzt in den Tagen vor der Shoah in Deutschland erlebt hat. Ich sage das auch, weil viele Jüdinnen und Juden sich gerade akut die Frage stellen, ob sie überhaupt eine Zukunft in Deutschland sehen. Wenn wir nicht verstehen, wie wichtig es ist, gegen Antisemitismus anzukämpfen, steht wirklich die Frage im Raum, ob es Visionen und überhaupt eine Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland geben wird.

Auf dem Gemeindetag sind Gäste wie Außenministerin Annalena Baerbock, Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Ist das nicht ein Zeichen, dass Antisemitismus ernst genommen wird?

Auf jeden Fall. Das ist ein sehr wichtiges Zeichen. Die Frage ist jedoch, wie es um die Authentizität steht. Es reicht leider nicht aus, auf dem Gemeindetag zu sagen, dass Antisemitismus ein Problem ist. Das muss sich auch in der Politik widerspiegeln, insbesondere in der Außenpolitik. Annalena Baerbock muss dabei bleiben, wenn sie sagt, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist und dass Deutschland solidarisch mit Israel ist. Das betrifft auch das Abstimmungsverhalten in der UN, wo Deutschland sich bei Abstimmungen gegen Israel enthält. Jetzt geht es darum, dass die Politik die Maßnahmen gegen Antisemitismus, die auf dem Tisch liegen, konkret umsetzt und nicht nur bei Worten bleibt.

Sie sind politisch sehr aktiv, Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und Sprecherin der Werteinitiative. Was bewegt Sie dazu, sich so aktiv für jüdisch-deutsche Themen einzusetzen?

Ich spüre, wie gebrochen viele meiner jüdischen Freunde sind

Anna Staroselski - Sprecherin des Vereins Werteinitiative

Mein Engagement für die jüdische Community begann damit, dass ich als Betreuerin an Jugendseminaren teilnahm und Programme für junge Jüdinnen und Juden durchführte. Als ich feststellte, dass die nächste Generation immer noch Probleme in der Schule hatte und sich dafür schämte, jüdisch zu sein, erkannte ich, dass es nicht nur ein Problem innerhalb der jüdischen Community ist, sondern dass politische und gesellschaftliche Veränderungen notwendig sind.

Ich möchte nicht akzeptieren, dass künftige Generationen immer noch in Angst vor ihrer jüdischen Identität in Deutschland leben. Ich sehe eine Verantwortung darin, dazu beizutragen, dass jüdisches Leben in Deutschland sicher und selbstbestimmt stattfinden kann.

Derzeit werden jüdische Einrichtungen und Schulen von Sicherheitskräften bewacht, und das ist nicht der Zustand, den sich Jüdinnen und Juden wünschen. Wir wollen nicht hinter Panzerglas leben, sondern offen und einladend sein. Man muss jedoch verstehen, dass die Bedrohungslage so hoch ist, dass seit dem 7. Oktober die Sichtbarkeit jüdischen Lebens immer mehr abnimmt.

Was bedeutet es im Moment, Jüdin zu sein, auch für Sie persönlich?

Für mich bedeutet es, sehr achtsam im Alltag zu sein. Ich überlege genau, wohin ich gehe, ob ich mich in einem sicheren Umfeld befinde, ob ich meinen Namen in der Uber-App angeben kann oder ob ich ihn ändern muss. Nach dem 7. Oktober gab es Markierungen an Häusern von Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Es gab Übergriffe in privaten Wohnungen, in denen Jüdinnen und Juden leben. Ich liebe meine jüdische Identität, die Tradition und die Gemeinschaft, aber ich spüre, wie gebrochen viele meiner jüdischen Freunde sind. Der Schmerz sitzt tief, und auch wenn wir jüdische Feste feiern, gibt es immer ein weinendes Auge. Wir denken auch an die Geiseln in Gaza. Man weiß nicht, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt am Leben sind. Es ist momentan nicht einfach.

Haben Sie Optimismus, oder was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre?

Ich erhalte viel Zuspruch für unsere gemeinsame Arbeit und ich freue mich besonders, wenn dieser Menschen kommt, die nicht jüdisch sind. Die Stärke und Widerstandsfähigkeit der jüdischen Community gibt mir viel Kraft. Ja, ich bleibe optimistisch, sonst würde ich diese Arbeit nicht machen. Aber ich wünsche mir, dass das, was gerade passiert, ernst genommen wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Ursula Vosshenrich. Es handelt sich um eine gekürzte und redigierte Fassung.

Sendung: rbb24 Inforadio, 14.12.2023, 10:45 Uhr

Beitrag von Ursula Vosshenrich

1 Kommentar

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  1. 1.

    Solidarität mit unseren Mitbürgern zeichnet sich durch reges Interesse, auch schriftlich, aus. Nun verstehe ich erstmals, was gähnende Leere auch hier unter den Kommentaren bedeutet. Ich persönlich mag Frau Staroselski sehr, eine intelligente und engagierte junge Lehrerin, eine Frau aus der Mitte der Gesellschaft. Es gab nie Zweifel daran, dass Juden zu uns gehören, da ja auch unsere Leitkultur eine christlich/jüdische Leitkultur ist. Für mich gab es hier nur Menschen, die sich gegenseitig akzeptieren und gemeinsam für diese Gesellschaft agieren. Doch plötzlich, 100 Jahre nach der menschlichen Entgleisung, von der ich dachte, sie wäre überwunden, reden jüdische Mitbürger davon, hier nicht mehr sicher zu sein. Es soll in dieser Gesellschaft tatsächlich Menschen geben, die den Hass von damals reaktivieren. Eine Begründung für den Hass auf Personen einer Gesellschaft gibt es nicht, der Hass nährt sich aus sich selbst. Rassismus und Antisemitismus sind Geschwister, ein furchtbares Paar.

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