Versammlung in Berlin - Jüdischer Gemeindetag startet in Zeiten der Verunsicherung
In Berlin kommen am Donnerstag mehr als 1.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden aus Deutschland zusammen - pandemiebedingt erstmals seit 2019. Der diesjährige Gemeindetag steht unter dem Eindruck des Hamas-Terrors. Von Carsten Dippel
Wenn von Donnerstagabend an jüdische Menschen aus ganz Deutschland in Berlin zum Gemeindetag zusammenfinden, so tun sie dies in Zeiten tiefer Verunsicherung. Das Pogrom der Hamas am 7. Oktober wirkt noch immer stark nach. Die zahlreichen Übergriffe auf jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen seit dem Terrorangriff, der Hass, der ihnen entgegenschlägt, all das hat Spuren hinterlassen.
Viele jüdische Menschen haben Angst. Sie trauen sich nicht mit sichtbaren Symbolen, wie einer Kippa oder einer Kette mit Davidstern, auf die Straße, Kinder werden von Sportvereinen abgemeldet. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist bedroht.
Dies rückt den Gemeindetag, dieses Großereignis mit über 1.000 Teilnehmern aus allen Ecken der Republik, der in normalen Zeiten auch ein ausgelassenes Fest der Gemeinschaft ist, in diesem Jahr in ein besonderes Licht.
Gemeinschaft in Zeiten der Bedrohung
Umso wichtiger sei es, gerade jetzt zusammenzukommen, findet Sandra Anusiewicz-Baer. Sie leitet das Zacharias Frankel College in Potsdam, an dem Rabbinerinnen und Rabbiner der konservativen jüdischen Strömung ausgebildet werden. "Die Möglichkeit, dass jetzt so viele Gemeindemitglieder aus ganz Deutschland zusammenkommen, ist etwas ganz Wichtiges. Der persönliche Austausch ist in der aktuellen Situation, wo wir alle diese Gefährdung, diese Bedrohung, diesen Druck spüren, ungemein wichtig."
Das empfindet auch der jüdische Aktivist Mike Samuel Delberg so. "Ich freue mich, Freunde, jüdische Aktivisten und Vertreter aus allen Gemeinden in Deutschland nach so langer Zeit, nach Pandemie und Krieg, nach all dem, was passiert ist, wiederzusehen." Er sei sehr gespannt auf die Stimmung beim diesjährigen Gemeindetag, sagt Delberg. "Viele bringen ein Päckchen mit. Und so ausgelassen, intensiv, freundschaftlich und euphorisch, wie die Gemeindetage in der Vergangenheit waren, wird dieser Gemeindetag wahrscheinlich von großen Sicherheitsfragen und einem gegenseitigen Austausch, wie man mit der Situation andernorts in Deutschland umgeht, geprägt sein."
Politik setzt ein Zeichen
Ausdruck dieser angespannten Lage, unter der der diesjährige Gemeindetag stattfindet, ist die politische Prominenz, die sich angekündigt hat. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird ebenso sprechen wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) werden auftreten.
Dass sich Deutschland bei der Abstimmung der umstrittenen Gaza-Resolution der UN-Vollversammlung am 27. Oktober, die den Hamas-Terror nicht eindeutig verurteilt hat, enthielt, hatte in der jüdischen Gemeinschaft starke Kritik hervorgerufen. Das derzeitige Vorgehen Israels im Gaza-Krieg wiederum wird in den Parteien zunehmend offener kritisiert, auch wenn die Bundesregierung bislang zu ihrem Wort steht, fest an der Seite Israels zu stehen.
"Ich finde es wichtig, dass der Gemeindetag politisch aufgeladen ist", sagt Mike Samuel Delberg. "Es gibt viele Themen, die uns beschäftigen und über die wir nicht hinwegsehen können." Delberg hofft hier auf ehrliche Diskussionen auf dem Gemeindetag, Diskussionen, die auch den Finger in manche Wunden legen. "Ich erwarte, dass die vielen Gäste aus Politik und Gesellschaft, die nicht zur jüdischen Gemeinde gehören, unsere Sorgen, Bedürfnisse und Wünsche mitnehmen und sie zu einem Teil ihrer Politik und ihres Engagements machen."
Eine Erwartung, die Sandra Anusiewicz-Baer teilt. Dass die Spitzen der Politik auf dem Gemeindetag sprechen werden, die Politik zusichert, jüdisches Leben zu schützen und zu unterstützen, sei ein starkes und wichtiges Zeichen der Solidarität. Es dürfe jedoch nicht bei Verlautbarungen bleiben. "Sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das keineswegs auch schon Sicherheit bedeutet. Den Bekenntnissen müssen konkrete Schritte folgen."
Die Geiseln der Hamas nicht vergessen
Deborah Kogan, stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Studierenden Union (JSUD) und Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, blickt gespannt auf die Frage, welchen Raum der Krieg Israels gegen die Hamas und die noch immer von der Terrororganisation festgehaltenen Geiseln in den Diskussionen beim Gemeindetag einnehmen wird. "Ich denke, dass das gemeinsame Erinnern und Trauern ein Zeichen setzen wird, dass wir uns als jüdische Gemeinschaft nicht unterkriegen lassen."
Und auch der Krieg in der Ukraine wird eine Rolle spielen. Viele jüdische Menschen in Deutschland haben familiäre Wurzeln in der Ukraine. Auf einem Podium des Gemeindetages ist der Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt zu Gast. Er musste aus Russland fliehen, nachdem er den russischen Überfall auf die Ukraine öffentlich kritisiert hatte.
Vielfalt im Programm
Auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gemeindetags wartet ein dichtes und breites Programm, dass die Vielfalt jüdischer Erfahrung in Deutschland widerspiegeln soll. Mit Themenblöcken zu Fragen der Erinnerungskultur, der terroristischen Bedrohung, des Antisemitismus, aber auch Nachhaltigkeit, bis hin zur Frage, ob Künstliche Intelligenz bald Rabbiner ersetzen wird.
Dass die religiösen Einheiten überwiegend von orthodoxen Gemeinderabbinern und kaum von liberalen oder konservativen Rabbinerinnen oder Rabbinern geleitet werden, kritisiert Sandra Anusiewicz-Baer. "Das spiegelt für mich gerade nicht die vielbeschworene Pluralität jüdischen Lebens und jüdischer Strömungen in Deutschland wider." Die Leiterin des Zacharias Frankel College sagt das auch vor dem Hintergrund des Skandals um das liberale Potsdamer Abraham Geiger Kolleg. Die liberale jüdische Welt ist seitdem in Aufruhr.
Anfang des Jahres wurde mit JLEV zwar ein neuer liberaler Verband unter dem Dach des Zentralrats gegründet. Doch wie es mit der liberalen und konservativen Rabbinerausbildung in Potsdam weitergeht, ist derzeit völlig offen. Dabei, so drückt es Anusiewicz-Baer aus, brauche es gerade jetzt in einer so schwierigen Zeit gut ausgebildete Führungspersönlichkeiten, die sich ihrer Verantwortung für die jüdische Gemeinschaft bewusst sind.
Tage der Stärkung
Der Gemeindetag steht in diesem Jahr unter dem Motto "Zusammen leben". Doch .die Risse in der Gesellschaft werden sichtbarer, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist gefährdet und verunsichert wie vielleicht noch nie seit Gründung der Bundesrepublik.
Deborah Kogan wünscht sich, dass die Teilnehmenden bestärkt aus dieser mehrtägigen Veranstaltung herauskommen. "Dass sie in ihre Gemeinden zurückkehren und trotz der schwierigen Situation ein selbstbewusstes jüdisches Leben weiterleben und wissen, dass sie nicht alleine sind."
Sendung: rbb24 Abendschau, 14.12.23, 19:30 Uhr