Nicht gegebener Elfmeter im Hertha-Spiel - Ex-Schiedsrichter Gräfe fordert klare Grenzen beim Handspiel

Mo 12.09.22 | 19:28 Uhr | Von Jakob Lobach
Schiedsrichter Benjamin Brand im Spiel Hertha gegen Leverkusen (Bild: IMAGO/Nordphoto)
Bild: Nordphoto

Seit Jahren sorgen komplizierte Handspiel-Regelungen im Fußball für Diskussionen. Drei strittige Entscheidungen am vergangenen Bundesliga-Wochenende boten diesen nun neues Futter. Ex-Schiri Manuel Gräfe kritisiert, es fehle an Klarheit und Durchsetzung.

Gleich mehrere kritische Schiedsrichter-Entscheidungen am sechsten Spieltag der Bundesliga-Saison haben die anhaltende Diskussion um die Handspiel-Regelung neu befeuert. Bei zwei gepfiffenen Handspiel-Elfmetern in Bremen und Köln sowie einem nicht gegebenen Strafstoß für Hertha BSC zeige sich erneut, dass eine klare Linie unter den Unparteiischen fehle, kritisierte der ehemalige FIFA-Schiedsrichter Manuel Gräfe. Der Berliner nimmt die Schiedsrichterkommission in die Pflicht und fordert klarere Vorgaben in der Auslegung der Handspiel-Regelung.

Strittiger Elfmeter für Bremen

Bevor Hertha BSC am Sonntag einen vermeintlichen Elfmeter eben nicht zugesprochen bekam, hatte es schon am Freitagabend im Heimspiel von Werder Bremen gegen den FC Augsburg große Aufregung gegeben. In der Nachspielzeit führten die Gäste mit 1:0 als Werders Marvin Ducksch den Ball nach einer Hereingabe im Strafraum bekam und seinen Gegenspieler Maximilian Bauer aus kürzester Distanz an den Oberarm schoss. Wenngleich der Arm des Augsburgers nicht gänzlich angelegt war: Eine unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche oder gar Absicht konnte man Bauer keinesfalls unterstellen. Obwohl, vereinfacht ausgedrückt, diese zwei Kriterien laut Regelwerk über die Strafbarkeit eines Handspiels entscheiden, zeigte Schiedsrichter Martin Petersen auf den Punkt und blieb auch nach einer Überprüfung durch Videobeweis (VAR) bei seiner Entscheidung.

Eine strittige Entscheidung - deren Streitbarkeit angesichts dessen, was einen Tag später im Spiel der Hertha passieren sollte, nur noch größer wurde.

Kein Strafstoß für die Hertha

In der 82. Minute des Spiels der Berliner gegen Bayer Leverkusen war es Jean-Paul Boetius, der aus zentraler Position im Leverkusener Strafraum einen Nachschuss abgab. Aus ungleich größerer Entfernung als im Bremer Beispiel bekam Odilon Kossounou den Ball wenige Meter vor dem freien Tor an den rechten, weit abstehenden Arm. Auch wenn Kossounou keine aktive Bewegung zum Ball machte, war seine Körperhaltung doch unnatürlicher als die von Augsburgs Bauer am Vorabend.

Hinzu kommt, dass der Verteidiger seinen linken Arm aktiv anlegte, während er den rechten stehen ließ. "Das heißt, er wollte bewusst und unter Spannung die ungedeckte Seite des Tores ein bisschen mit abdecken. Für mich, nach Ansicht der TV-Bilder, eine klare Fehlentscheidung", sagt der langjährige FIFA- und Bundesliga-Schiedsrichter Manuel Gräfe zu rbb|24. Anders als im Freitagsspiel entschied sich Schiedsrichter Benjamin Brand gegen einen Strafstoß, ohne sich die Szene selbst noch einmal auf Video anzusehen. Nach Spielende verwies Brand auf die - aus seiner Sicht unerfüllten - Kriterien für ein strafbares Handspiel.

Noch eins drauf setzte am Wochenende der strittigen Handspiele das Spiel vom 1. FC Köln gegen Union Berlin am Sonntag: In der achten Minute köpfte Unions Robin Knoche den Ball aus etwa einem Meter Entfernung an den Ellenbogen des Kölners Luca Kilian. Dieser stand mit dem Rücken zu Knoche, konnte diesen also nicht einmal sehen und landete gerade nach einem Kopfballversuch, mit einem ganz und gar natürlich abstehenden linken Arm. Anders als bei der Hertha bekam Union jedoch von Schiedsrichter Benjamin Cortus einen Elfmeter zugesprochen.

Manuel Gräfe kritisiert fehlende Linie

Die unterschiedliche Bewertung offenbare deutlich, dass klare Richtlinien fehlen, so der frühere FIFA-Schiedsrichter Gräfe. "Das Handspiel im Union-Spiel ist für mich nicht strafbar, da der Kölner in einer Abwärtsbewegung mit nur normal und nur leicht angewinkelten Armen - also natürlicher Haltung - nach gescheiterten Kopfballversuch den Ball unglücklich dort von hinten an den Arm bekommt. Zumindest ist es weniger strafbar als das bei Hertha", sagt der 48-jährige Berliner und ergänzt: "Das ist ein Problem der Linie, und diese fehlt." So habe Benjamin Brand laut Gräfe zwar dahingehend recht, "dass eine Vergrößerung der Körperfläche oder Absicht vorliegen muss", allerdings unterstellt Gräfe dem Leverkusener Kossounou ebendiese Absicht.

Trotz zahlreicher Änderungen der Regeln in den vergangenen Jahren - der Einführung des Videobeweises und vielen Versuchen, die Handspiel-Regelung klarer zu gestalten - bieten diese weiterhin viel Raum für Interpretation. Eine Schwachstelle, findet Gräfe - die die Schiedsrichterkommission durch "fehlende Führung" nicht behebe. "Die Schiedsrichterführung ist für die richtige Einstellung der Schiedsrichter und eben einer einheitlichen Linie verantwortlich, so wie es die Trainer bei ihren Mannschaften sind", sagt Gräfe und ergänzt: "Diese Linie aber fehlt." Und das nicht nur beim Handspiel, sondern beispielsweise auch beim Thema VAR. "Das ärgert Spieler, Trainer, Manager und Fans zurecht vehement."

"Collinas Erben" deaktivieren Twitter-Account

Die Wucht dieser Unzufriedenheit bekamen jüngst die Schiedsrichter-Experten von "Collinas Erben" zu spüren: Nachdem sie auf ihrem Twitter-Account Benjamin Brands Entscheidung gegen einen Hertha-Elfmeter erklärten und als nicht falsch einordneten, gingen laut Mitbegründer Alex Feuerherdt teils heftigste Beleidigungen ein.

"Dass, was wir am Samstag erlebt haben, übersteigt das, was wir schon seit längerer Zeit gewohnt sind", sagt Feuerherdt rbb24 gegenüber. So sehr, dass man sich dazu entschieden habe, den Twitter-Account mit über 50.000 Followern zu deaktivieren. "Ob das von Dauer sein wird oder wir uns irgendwann in der Lage sehen, das Ganze fortzuführen, wissen wir noch nicht."

Sendung: rbb24, 12.09.2022, 18 Uhr

Beitrag von Jakob Lobach

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