Willkommensklassen fehlen - 1.120 neu zugewanderte Kinder in Berlin haben keinen Schulplatz

Mo 28.08.23 | 08:37 Uhr | Von Anna Corves, Freya Reiß
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Werner Behrendt und Doris Settgast geben zwei Mal die Woche Deutsch-Unterricht in der in Erstaufnahmeeinrichtung Buchholzer Straße in Berlin-Blankenfelde (Quelle: rbb)
Audio: rbb24 Inforadio | 28.08.2023 | Anna Corves | Bild: rbb

Mehr als 1.000 neu zugewanderte Kinder in Berlin sind ohne Schulplatz. Es fehlt an Räumen und Lehrpersonal für Willkommensklassen. Doch auch denen, die einen Platz ergattern konnten, fehlt es an Förderung - was am Ende die Schulen gesamt belastet. Von Anna Corves und Freya Reiß

  • Rund 11.000 Kinder besuchen in Berlin Willkommensklassen
  • Weitere 1.120 sind in der Warteschleife
  • Auch Übergang in Regelklassen gestaltet sich schwierig

Seit Februar lebt die 13-jährige Rada aus der Republik Moldau in einer weißen Containersiedlung in Berlin-Blankenfelde, einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Sie ist schulpflichtig, wie so viele Kinder und Jugendliche hier. Aber: 33 von ihnen haben noch keinen Platz in einer Willkommensklasse ergattert. Was Rada den lieben langen Tag so macht? "Ich helfe meinen Eltern im Haushalt. Und sitze viel mit dem Handy auf dem Sofa, manchmal den ganzen Tag".

Heute aber darf die 13-Jährige das tun, was sie vermisst: lernen. Zweimal in der Woche besuchen Ehrenamtliche die Unterkunft, unterrichten ein, zwei Stunden lang Deutsch. Aufmerksam beobachtet Rada, wie Doris Settgast das Wort 'Kartoffel' an die Tafel schreibt, auf das doppelte 'f' hinweist. Dann üben alle gemeinsam im Chor Sätze, die man zum Einkaufen braucht.

"Viele Kinder freuen sich über die Stunde", erzählt Doris Settgast. Immer wieder würden sie ihr sagen, dass sie gerne in eine richtige Schule gehen wollen. "Das, was sie jetzt hier haben mit mir, zweimal die Woche eine Stunde: Das reicht nicht". Auch der Leiter der Unterkunft, Thomas Vietz vom gemeinnützigen Träger Albatros, betont, ihre Angebote könnten keinesfalls den Schulbesuch ersetzen. Dass Kinder ein halbes Jahr auf einen Platz warten, sei keine Seltenheit. "Ihnen gehen Chancen verloren".

Seit Februar wartet die 13-jährige Rada auf einen Schulplatz (Quelle: rbb)Seit Februar wartet die 13-jährige Rada auf einen Schulplatz

Es mangelt an Lehrern, Räumen, Unterstützung

Rund 11.200 neu zugewanderte Kinder und Jugendliche lernen in Berlin derzeit in Willkommensklassen Deutsch. Doch das reicht nicht: 1.120 Namen stehen nach Senatsangaben aktuell auf den Wartelisten der Bezirke - die Zahlen ändern sich kontinuierlich. In Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg fehlen besonders viele Plätze. Es mangelt an Personal, an Räumen.

Es fehle aber auch an Unterstützung seitens der Verwaltung, sagt Lydia Puschnerus. Sie ist bei der Lehrergewerkschaft GEW in Berlin für den Bereich Schule zuständig, leitet selbst eine Willkommensklasse in Schöneberg. Würde man den Schulen noch mehr soziales oder pädagogisches Personal zur Verfügung stellen – das müssten ja keine ausgebildeten Lehrkräfte sein – dann würden es sich vielleicht mehr Schulen zutrauen, eine Willkommensklasse aufzumachen, sagt sie. "Wenn sie aber das Gefühl haben, sie stehen dann alleine da, als Einzelkämpfer, dann fehlt die Motivation", so Puschnerus. Dieses Gefühl hätten viele Schulen.

Wachsende Herausforderung für alle Beteiligten

Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) betonte in ihrer Pressekonferenz zum Schuljahresstart, es brauche Zeit, um mit den Bezirken nach Möglichkeiten für weitere Willkommensklassen zu suchen. Diese Zeit solle aber genutzt werden, um die wartenden Kinder und Jugendlichen auf das System Schule vorzubereiten. Dafür habe man in Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern Angebote geschaffen, wie zum Beispiel "Fit für die Schule", in denen außerhalb der Schule bereits Sprachbildung vermittelt wird. "Diese tagesstrukturierenden Angebote sind weiterhin der Schlüssel, sie sollen weiter ausgebaut werden." Auch, um die Belastung für die aufnehmenden Schulen zu lindern.

Ortswechsel in den Süden der Stadt, nach Tempelhof-Schöneberg. Hier wurden gerade 14 zusätzliche Willkommensklassen eingerichtet, die Warteliste konnte abgebaut werden, wie der Bezirk mitteilt. Allerdings fehlen noch zwei Lehrkräfte, so dass einige Kinder auf den Start ihrer Willkommensklasse noch warten müssen.

Das ist für die Schüler eine harte Erfahrung, weil sie dann bei uns geparkt werden.

GEW-Vorständin Lydia Kuschnerus

Um die neuen Lerngruppen einrichten zu können, musste der Bezirk neue Wege gehen. So wurde an einem Standort projektartig eine 'Doppelbeschulung' im Vormittags- und Nachmittagsbetrieb eingeführt. Der notwendige Ausbau der Willkommensklassen habe die ohnehin starke Auslastung der Raumkapazitäten verschärft und auch weitere Einschränkungen bestimmter Angebote zur Folge, heißt es auf Anfrage. Der Bezirk spricht von einer stetig wachsenden Herausforderung für alle Beteiligten.

Die wird exemplarisch sichtbar an der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule in Lichtenrade, die drei Willkommensklassen auf die Beine gestellt hat. Die Gruppen seien sehr heterogen, erzählt Direktor Jens Otte. Bei manchen Kindern frage man sich, ob sie in ihren Heimatländern jemals die Schule besucht hätten, sie müssten erst alphabetisiert werden, andere Schüler seien leistungsstärker. Für die Lehrer ist das ein Spagat.

Nächste Hürde: Übergang in die Regelklassen

Trotzdem haben die meisten Kinder nach etwa einem Jahr ein Sprachniveau erreicht, mit dem sie in eine Regelklasse wechseln können, berichtet Direktor Jens Otte. Um den Kindern das ermöglichen zu können, rücken sie in den ohnehin vollen Klassen die Stühle nochmal enger zusammen. Nicht überall läuft es so: GEW-Vorständin Lydia Kuschnerus erzählt aus ihrer Willkommensklasse, dass regelmäßig Schüler, die diese erfolgreich absolviert hatten, wieder zurückgeschickt werden – weil das Schulamt keinen freien Platz in einer Regelklasse gefunden hat. "Das ist für die Schüler eine harte Erfahrung, weil sie dann bei uns geparkt werden".

Für Grundschuldirektor Jens Otte ist der Übergang von der Willkommensklasse in den Regelunterricht nicht nur aus Platzgründen eine große Herausforderung: Es falle immer schwerer, das Lernniveau zu halten. Eigentlich ist vorgesehen, dass die Kinder, die in den Regelunterricht wechseln, weiterhin Förderunterricht absolvieren – nach einem Jahr in der Willkommensklasse können sie noch nicht auf dem Stand der anderen Kinder sein. In der Praxis aber klappt es mit dem Förderunterricht an vielen Schulen nicht.

Bei Jens Otte zum Beispiel, dessen Schule bisher einen guten Personalstand hatte, haben sich gerade zwei Lehrkräfte langfristig krank gemeldet. Die Folge: "Alle Förderstunden entfallen". Ein herber Verlust für alle Kinder, die Zusatz-Förderung benötigen, aus welchen Gründen auch immer.

Schwestern Nare (links) und Mane aus Armenien (Quelle: rbb)
Schwestern Nare (links) und Mane aus Armenien | Bild: rbb

Es gebe ohnehin schon viele Schüler mit schwachen Leistungen, berichtet Otte. Wenn dann fast nur Schüler dazukämen, die ebenfalls schwach seien, und das nicht durch Förderung aufgefangen werden könne, sei die logische Konsequenz: "Zuerst sinkt das Lerntempo, dann auch das Niveau".

Das belegt die jüngste Vera-Bildungsstudie für Berliner Schüler bereits eindrücklich. Jens Otte neigt mehr zum Probleme-Anpacken als zum Jammern - aber seine Prognose ist klar: Mit dem Personalmangel wird sich dieser Trend fortsetzen. Für die Schulen ist das ein Kraftakt. Und für die Kinder? "Ist das ungerecht", sagt Otte. Für alle Kinder, ganz egal, woher sie kommen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.08.2023, 6 Uhr

Beitrag von Anna Corves, Freya Reiß

43 Kommentare

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  1. 43.

    Ganz im Gegensatz zu ihnen gehe ich auf den Inhalt ein, sonst würde ich sie wohl kaum zitieren oder? Sie kennen statt Argumente nur Diffamieren und Derailing.

    Ihre "althergebrachte und erprobte Methoden der Pädagogik" ist ja das Modell der Selektion durch Haupt-, Realschule und Gymnasium.

    Ihre "althergebrachte und erprobte Methoden der Pädagogik" sind der Grund warum Deutschland regelmäßig die letzten Plätze bei PISA belegt. Ihre Ellenbogengesellschaft auf die schon die Kleinsten gedrillt werden sollen ist sowas von vorgestern.

  2. 42.

    Genau ! Und nun schicken wir mal unsere Verantwortlichen auf die Schulbank, damit sie das lernen und begreifen und das erworbene Wissen dann im Interesse der Bildung aller Kinder einsetzen.

  3. 41.

    Genau deshalb denke ich , dass Mittel, die jetzt zusätzlich fließen sollen, nicht den Eltern, sondern z.B. Sportvereinen, Freizeiteinringtungen, Bildungsstätten usw. gegeben werden. Eine Verbesserung der Kinder- und Jugendarbeit kommt auch wirklich bei den Kindern an (siehe Arche).

  4. 40.

    Man kann an der DDR ohne Frage viel Schlechtes und Schlimmes finden, aber das Bildungssystem war - abseits der andauernden politischen Indoktrination - hervorragend, weil die Regierenden erkannt hatten, dass Bildung der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschaft ist. Mit diesem erworbenen Wissen waren die Bürger dann auch in der Lage, unter den widrigen wirtschaftlichen Bedingungen das Bestmögliche herauszuholen.

  5. 39.

    Wenn Sie schon zwanghaft auf meine Beiträge antworten, dann gehen Sie doch wenigstens korrekt auf den Inhalt ein, sonst kommt bei Ihren Antworten nur Unfug raus. Den Unterschied zwischen Lernmethode und Schulform haben Sie offensichtlich nicht verstanden. Ersteres habe ich bemängelt, letzteres nicht mal erwähnt. Wenn Gymnasien heute oft gerade mal das allgemeine Bildungsniveau einer früheren Realschule erreichen, dann liegt das ganz sicher nicht daran, dass die Schulform nicht passt.

  6. 38.

    Nicht persönlich nehmen!
    Am konkreten Beispiel:
    Eigene Frau, kurz vor dem Renteneintritt, vollbeschäftigte Erzieherin. Umgeben von fast ausschließlich Teilzeitbeschäftigte. Gerade ist die Schließzeit vorbei, der Krankenstand steigt sprunghaft. Die Arbeit bleibt bei den wenigen Vollzeitbeschäftigten hängen. Auch scheint die Bereitschaft zur Krankmeldung gestiegen. Stichwort mit dem Beruf identifizieren. Und die Vollzeitbeschäftigten bleiben richtig gesund!

  7. 37.

    Warum?? Kranke können nicht arbeiten gehen, sehe ich ein, nur das Eltern ihre Kinder ohne Frühstück in die Schule schicken , hat nicht damit zu tun dass das Bürgergeld zu niedrig ist! Uns wäre in den 59 Jahren nie eingefallen zum Amt zu gehen, nein wir hatten wenig , aber unsere Kinder haben mit wenig Geld eine normale Kindheit gehabt. Also woran liegt es??

  8. 36.

    Es gibt eine Mehrheit. Und jeder der nicht zur Mehrheit gehört, ist eine Minderheit. Minderheit ist aber im Gegensatz zur Mehrheit meist keine homogene Masse. Ergo kann es mehrere, sich voneinander unterscheidende Minderheiten geben.

    Und Eliten allein schaffen zwar keinen Wohlstand. Krankenschwestern, Müllmänner, Polizisten allein aber auch nicht.

  9. 35.

    Das ist es leider nicht. Selbst die vielgerügten 50€ mehr und Umbenennung fangen nicht einmal die Stromzahlungen auf (sie sind selbst zu tragen) oder bringen irgendwie Teilhabe. H4/5/BüG ist Armut. Beim Paritätischen und anderen Fachgremien können Sie nachlesen, wie viel nötig wäre, um nicht arm zu sein, um mitmachen zu können.

    Hier wird ganz gelb oft so getan, als ob ABM neu passen würde – viele können gar nicht (mehr) arbeiten. Viele "stocken auf", haben also ungenügend Einkommen trotz Erwerbsarbeit neben der anderen Arbeit wie z. B. Familienmitglieder pflegen.
    Trotz vieler freier Lehrstellen bleiben viele unbesetzt, das gleiche mit Arbeitsstellen.

  10. 34.

    "Aber alle Kinder sollten gleich sein bzw. die gleichen Möglichkeiten haben."–Dann statten Sie sie mit den Mitteln aus, um teilhaben zu können – an der Eisdiele, dem Geburstag, Schwimmbad, Fußballclub samt Trikots und Schuhen ……… ohne Moos nix los!

  11. 33.

    Es gibt keine mehrere Minderheiten, sonst wäre es ja keine Minderheit. ;-)

    Im Ernst, den Mißbrauch kann man vernachlässigen, der liegt im unteren einstelligen Prozentbereich. Wird aber gerne von einschlägigen Kreisen übertrieben.

  12. 32.

    "Der Wohlstand wird nicht von Analphabeten generiert. " Aber auch nicht von Eliten.

    Noch nie. Aber von der breiten Masse. Den Krankenschwestern, Müllmännern, Polizistinnen...

  13. 31.

    Da haben Sie natürlich Recht. Besondere Begabungen sollten rechtzeitig gefördert werden. Das darf aber nicht zur Vernachlässigung der übrigen Schüler führen - vor allem im Grundschulalter.

  14. 30.

    Zur Ergänzung: Analog dem POS -Schulsystem (Stil nicht Stoff) wird auch heute noch in Finnland gelehrt. Da lohnt ein Blick auf die Ergebnisse der PISA-Studien.

  15. 28.

    Man sollte Minderheiten nicht vernachlässigen, schon garnicht, wenn es um Kinder geht. Und - mehrere Minderheiten ergeben zusammen eine ganze Menge.
    Zur Info -ich bin ein Ostprodukt ;-) - die Allgemeine polytechnische Oberschule führte von der 1. bis zur 10. Klasse mit überwiegend festem Schülerbestand von 28 -32 Schülern. Lernstarke und lernschwache Schüler lernten miteinander und voneinander. Der Lehrplan war republikweit einheitlich. Unterrichtsausfälle gab es nur wetterbedingt ;-)

  16. 27.

    Warum sollte man denn keine Eliten fördern ? Wenn es keine Spitzenleute gibt, kann man den Rest erst recht vergessen. Der Wohlstand wird nicht von Analphabeten generiert.

  17. 26.

    Wahrscheinlich alles zukünftige Nobelpreisträger, die dann auf Grund der hervorragenden Ausbildung zeigen, wo der Hammer hängt. So wird Deutschland noch China und Indien rechtzeitig bei den großen Playern abfangen !

  18. 25.

    Sie reden hier von einer Minderheit, die zu vernachlässigen ist, eine Lösung habe ich genannt. Familienhelfer.

    "Kennen Sie das System der Allgemeinen polytechnischen Oberschule?"

    Nur von meinen Verwandten, bzw. vom Hörensagen, ich bin ein "Westprodukt".

  19. 24.

    Sie fragen zu recht : Wann lernt man endlich aus den Fehlern der Vergangenheit? Nie, wie man seit Jahren sehen kann. Den Fachkräftemangel gibt es auch in der Politik und dort besonders bei den Grünen in den Führungspositionen.

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