Debatte um sozialen Pflichtdienst - Viel geben, wenig verdienen?
Junge Menschen sollten sich in den Dienst der Gesellschaft stellen – zumindest, wenn es nach dem Bundespräsidenten geht. Seine Idee eines "sozialen Pflichtdienstes" wird kontrovers diskutiert. Manche helfen freiwillig, wie der 19-jährige René aus Berlin. Von Jana Herrmann
Als René den hellen Raum betritt, blicken ihm drei lächelnde Gesichter entgegen. "Schön, dass ihr schon da seid!", begrüßt der 19-Jährige fröhlich zwei ältere Damen und einen Herren, der im Rollstuhl sitzt. Im Lutherstift in Berlin-Steglitz steht an diesem Tag Gedächtnistraining auf dem Programm: Von einem Blatt sollen die Senioren alle Begriffe ablesen, die zum Thema Herbst passen.
"Kerzenlicht!", sagt Klaus Langwald, der schon in dem Pflegeheim wohnte, bevor René dort sein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) begonnen hat. "Wir haben schnell tiefe Gespräche geführt und uns auch darüber unterhalten, dass es eine Schulung fürs Leben ist", berichtet der Rentner. Ebenso wie seine beiden Mitbewohnerinnen bestätigt er, dass der junge Mann sich seither toll entwickelt habe, immer freundlich und eine große Unterstützung sei.
René selbst empfindet das ähnlich: "Am Anfang habe ich gemerkt, dass ich nicht wirklich selbstbewusst bin und nicht weiß, wie ich mit Menschen umgehen soll. Wenn man Tag für Tag mit Menschen arbeitet, deren Dankbarkeit sieht, Spaß daran hat - dann entwickelt dass die eigene Persönlichkeit extrem. Und vor allem extrem ins Positive." Er ist einer von mehr als 53.000 jungen Menschen in Deutschland, die sich im Jahr 2020/21 für ein FSJ entschieden haben.
Ein Blick in die Geschichte
1961 wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht eingeführt. Wollten junge Männer nach Erreichen der Volljährigkeit nicht zur Bundeswehr, konnten sie allerdings auch verweigern. Alternativ mussten sie dann einen Zivildienst in sozialen Einrichtungen absolvieren, etwa im Krankenhaus, im Kindergarten oder im Altenheim. Beide - Wehrpflicht und Zivildienst - gibt es aber schon seit 2011 nicht mehr.
Wer nach der Schule trotzdem nicht direkt mit Studium oder Ausbildung beginnen, sich vielleicht erst einmal orientieren und vor allem engagieren möchte, hat heute bis zum 27. Lebensjahr andere Optionen: den Bundesfreiwilligendienst (Bufdi), das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ), ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) oder den Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD). Dafür gibt es dann eine Aufwandsentschädigung, von der allerdings niemand leben kann. "Ich arbeite fünfmal die Woche von 9 bis 17 Uhr und werde dafür bezahlt, als ob ich einen Minijob machen würde", erzählt René. Nächstenliebe zahlt sich in diesem Fall also nicht wirklich aus.
Steinmeier will junge Menschen in die Pflicht nehmen
Im Sommer 2022 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine weitere Möglichkeit ins Gespräch gebracht: Er wünsche sich einen sozialen Pflichtdienst für junge Menschen, um die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. "Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein. Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen." Das baue Vorurteile ab und stärke den Gemeinsinn, sagte Steinmeier im Juni der "Bild"-Zeitung.
Der Vorschlag traf auf gemischte Reaktionen. Unterstützung aus der Politik gab es unter anderem zuletzt auf dem Parteitag der CDU. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa befürworten zudem rund zwei Drittel der Deutschen die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes. Die Idee findet bei den Wählern aller Parteien Zustimmung - allerdings kommt sie bei Älteren besser an als bei Jüngeren: In der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre sprachen sich 49 Prozent für einen Pflichtdienst aus, bei den ältesten Befragten (ab 70 Jahre) lag die Zustimmung bei 81 Prozent.
Gegenwind aus Politik und Praxis
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) reagierte auf den Vorstoß von Steinmeier hingegen skeptisch. "Wir sollten unseren jungen Menschen, die unter der Corona-Pandemie besonders gelitten und sich trotzdem solidarisch mit den Älteren gezeigt haben, weiterhin die Freiheit zur eigenen Entscheidung lassen", appellierte sie. Auch Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) verkündete auf Twitter: "Eine Dienstpflicht wird es mit uns nicht geben."
Dass es in Deutschland vorne und hinten an Pflegekräften fehlt, ist bekannt. Dennoch winken auch Sozial- und Wohlfahrtsverbände eher ab, fordern stattdessen mehr Anreize und bessere Bedingungen für freiwilliges Engagement. Eine Meinung, die auch Andrea Jäger teilt. Sie leitet das Pflegeheim, in dem René sein FSJ absolviert. "Ich halte nichts von einem sozialen Pflichtjahr. Menschen, die sich mit dem Bereich auseinandersetzen, sollten das am besten freiwillig tun. Ich glaube, aus der Pflicht heraus hat es keinen Mehrwehrt für die Einrichtung und auch nicht für die Menschen, um die es geht."
Andrea Jäger spricht aus Erfahrung: Sie hat selbst noch einige Zivildienstleistende erlebt und betreut, bevor der Dienst vor rund zehn Jahren abgeschafft wurde. Einige davon hätten einen großartigen Job gemacht, andere hingegen nur ihre Zeit abgesessen und somit zwar Mehraufwand, aber am Ende doch wenig Gewinn für die Einrichtung bedeutet. Zudem galt bzw. gilt für Zivildienstleistende und FSJler: Sie fallen unter den Begriff der Arbeitsmarktneutralität, dürfen also keine regulären Fachkräfte ersetzen – bzw. deren Arbeitsplätze besetzen.
Engagement muss man sich leisten können
Wie so ein sozialer Pflichtdienst konkret aussehen könnte, was Dauer, Umfang, Gehalt betrifft, ist bisher noch völlig unklar. Gerade Letzteres könnte aber eine entscheidende Rolle spielen. Denn: Wer sich aktuell freiwillig engagieren möchte, muss sich das bei einem Verdienst von weniger als 500 Euro im Monat auch leisten können. Menschen aus sozial schwächeren Familien sind daher teilweise oft schon von Vornherein ausgeschlossen. Die Kritik damals wie heute lautete also auch: Im Zivildienst oder FSJ würden junge Menschen ausgebeutet.
Die aktuelle Bundesregierung hat es sich laut Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, die "Annerkennungskultur für Freiwillige" auszubauen. Dafür soll unter anderem ein einheitlicher Dienstausweis eingeführt werden, damit Freiwillige leichter an Vergünstigungen im Alltag kommen. Ansonsten hat sich die Ampel-Koalition aber geschlossen gegen ein soziales Pflichtjahr ausgesprochen. Dass dieses in naher Zukunft eingeführt werden könnte, bleibt also erst einmal unwahrscheinlich.
Soziales Pflichtjahr: Zum Helfen verdonnert? - Reportage auf Youtube
Und die möglichen Vorteile? Häufige Argumente für Steinmeiers Vorschlag sind, dass ein sozialer Pflichtdienst nicht nur den Horizont erweitern, jungen Menschen bei der Orientierung helfen und sie auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam machen kann, sondern auch Werbung für soziale Berufe machen würde. Zwar könne der Personalmangel in der Pflege so nicht behoben, aber zumindest etwas abgefangen werden, lautet ein weiteres Argument.
René übernimmt im Lutherstift zwar keine Pflegeaufgaben, ist aber dennoch unersetzlich. Er hört den Bewohnern zu, geht mit ihnen spazieren oder hilft beim Mittagessen. Dinge, für die dem Pflegepersonal im Alltag kaum Zeit bleiben – und die doch so wichtig sind. Und für René eine Erfahrung, die er nicht missen möchte. Sein FSJ hat er daher auch noch einmal verlängert. Im nächsten Jahr möchte er sich dann für eine Ausbildung bei der Polizei bewerben.
Sendung: rbb|24 explainer, 02.11.2022