Nach Pokalsieg 1968 - Wie die Folgen des "Prager Frühlings" Unions Europacup-Träume platzen ließen

Mi 07.09.22 | 14:18 Uhr | Von Gunnar Leue
Die Mannschaft des 1. FC Union im Jahr 1968 mit dem FDGB-Pokal. / imago images/Werner Schulze
Bild: imago images/Werner Schulze

Der Einmarsch der Sowjetarmee in Prag 1968 hatte auch sportpolitische Folgen. Der Europacup geriet zum Boykott-Wettbewerb - und brachte den 1. FC Union um den Lohn seines größten Erfolges. Von Gunnar Leue

Es ist ein Spiel, das für den 1. FC Union die Erfüllung einer Sehnsucht bedeutet. Wenn die Köpenicker am Donnerstag (18:45 Uhr) in der Europa League gegen Royale Union Saint-Gilloise spielen, findet im Stadion An der Alten Försterei erstmals ein Europacup-Spiel statt. Und so sagte Union-Präsident Dirk Zingler im rbb|24-Interview: "Seit 1920 spielen wir hier Fußball. Wir sind durch verschiedene Zeiten, verschiedene Staaten, durch eine geteilte Stadt und durch unterschiedliche Systeme gegangen. Heute spielen wir international, in der Europa League, in einem eigenen Stadion, was uns gehört. Das bedeutet den Menschen enorm viel."

Tatsächlich hätte es vor 54 Jahren schon (mindestens) ein Europacup-Spiel der Köpenicker in ihrem Revier geben können, ja eigentlich müssen. Dass es anders kam, hängt mit Ereignissen zusammen, die einen Teil des heutigen Mythos von Union als schicksalsgebeuteltem Klub ausmachen. 1968 war ein Jahr, das für die Köpenicker strahlend weiß begann und schwarz endete. Weil nicht die große DDR-Politik dem kleinen Kiezverein die Tour vermasselte, sondern die ganze große Politik. Die Weltpolitik, assistiert von den Handlangern in der Uefa-Spitze.

Rausch ungeahnter Erfolge

Politisch braute sich etwas zusammen, das die Fußballer in der Regel nicht juckte. Bei Union hatten sie außerdem noch einen schweren Kopf vom Feiern. Man befand sich gerade im Rausch ungeahnter Erfolge, es lief so gut wie nie in der kurzen Geschichte des neue gegründeten Vereins, der weniger protegiert wurde als die anderen Großklubs.

Als Oberliga-Frischling war Union in der Saison 1967/68 im DDR-Pokalwettbewerb sensationell ins Finale gekommen, das die Berliner auch noch mit 2:1 gegen den amtierenden Meister FC Carl Zeiss Jena gewannen. Die Begeisterung in Ost-Berlin kannte keine Grenzen: Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, das komplette Orchester Günter Gollasch erklärte nach dem Pokalsieg seinen Vereinseintritt, auch der Hauptmann von Köpenick.

Der kleine, kaum geförderte Verein mal ganz groß - und das Größte: Teilnahme am Europacup der Pokalsieger. "Das war eine Sensation. International war noch besser als Pokalsieg", sagte Unions Spielerlegende Günter "Jimmy" Hoge viele Jahre später.

Verbände ziehen Mannschaften zurück

Und es schienen sogar mehr als zwei Spiele drin. Die Auslosung in Zürich brachte den jugoslawischen FC Bor als Gegner. Günter Mielis, damals Vize-Klubchef von Union, warnte jedoch vor Übermut: "Wir meinen gut daran zu tun, uns nicht in Illusionen zu wiegen." Was sportlich gemeint war, entpuppte sich als bittere Prophezeiung.

Nachdem sowjetische Panzer im August 1968 in Prag den kurzen Frühling eines demokratischen Sozialismus niedergewalzt hatten, eskalierte der politische Ost-West-Konflikt. Auch ein paar westeuropäische Fußball-Klubs, vorneweg AC Mailand, machten klar, dass sie nicht gegen die Ostvereine antreten würden.

Die Uefa führte daraufhin, um den Wettbewerb zu retten, eine Neuauslosung durch, nach der zunächst die Ost- und Westvereine in Gruppen unter sich die Finalgegner bestimmen sollten. Weil die Verbände der meisten Ostblock-Staaten das als politische Diskriminierung sahen, zogen sie ihre Mannschaften zurück. Basta-Politik auf Russisch. Und so verfielen die bereits gedruckten Eintrittskarten für das neu ausgeloste Duell 1. FC Union gegen Dynamo Moskau.

Klub taumelt in die Erfolgslosigkeit

Günter Mielis war der Überbringer der schlechten Nachricht für die Union-Spieler. Als er sie nach dem Training zusammenholte, ahnten sie schon, was kommen würde. Sie hatten ja Westradio gehört. Der Euphorie folgten Depressionen, weil sie wussten: So eine Chance wird der Verein wohl nie wieder bekommen.

Die Spieler fühlten sich komplett veräppelt. Sie waren sich einig, dass sie als Sportler ausbaden mussten, was die Politiker veranstaltet hatten. Den Weg in die DDR-Presse fand ihr Unmut allerdings nicht. Stattdessen segnete das Oberliga-Kollektiv die vom DDR-Fußballverband erwartete Solidaritätserklärung bezüglich des Beschlusses ab.

Dasselbe Schicksal ereilte zwar auch die Jenaer als Qualifikant für den Landesmeister-Cup. Im Gegensatz zu den Thüringern, die 1981 gar das EC-Finale erreichten, taumelte aber Union in die Erfolglosigkeit. Ein Mix aus Pleiten, Pech und Personalpolitik - Unions Stürmerass Hoge wurde wegen "charakterlicher Schwächen" gesperrt - bewirkte sogar den direkten Abstieg aus der DDR-Oberliga.

Zingler: "Der ganze Film läuft nochmal ab"

Der "Prager Frühling" geriet für Union quasi zum Winter der Vereinsgeschichte und 1968 zum Mythenjahr für die Köpenicker. Erst nach dem Zusammenbruch des real nicht existenzfähigen Sozialismus spielte der Verein als DFB-Pokalfinalist doch im Uefa-Cup. Nachdem sie das Endspiel 2001 gegen Schalke 04 verloren hatten, konnten sie als Zweitligist trotzdem im Uefa-Cup antreten. Allerdings nicht im Stadion An der Alten Försterei, sondern im ungeliebten Jahn-Sportpark. Nach dem Erstrundensieg über den finnischen FC Haka Valkeakoski flogen die Unioner damals gegen die Bulgaren von Litex Lovetsch aus dem Wettbewerb.

Nachdem man es im vergangenen Jahr sensationell in die europäische Conference League geschafft hatte, war die Alte Försterei allerdings wieder tabu: Weil die Uefa keine Stadien mit Stehplätzen duldete, bestritten die Rot-Weißen ihre Heimpartien im Olympiastadion.

Weil der Verband seine Position jetzt änderte, wird Union nun erstmals einen Europacup-Gast in seiner Heimstätte empfangen. Für viele Unioner ein sehr besonderer Moment. Einigen wird es wie Dirk Zingler gehen, der sagte: "Vor 30 Jahren haben wir hier gestanden mit 700 Leuten gegen Hertha Zehlendorf. Und jetzt kommt der Vizemeister aus Belgien. Dann läuft der ganze Film nochmal ab."

Sendung: rbb24, 07.09.2022, 18 Uhr

Beitrag von Gunnar Leue

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