Meinung | Statistiken im Fußball - Zweikampf mit dem Zahlensalat

Mo 04.12.23 | 06:16 Uhr | Von Ilja Behnisch
  6
Steffen Freund am Computer (Bild: Imago images/Alternate)
Als das Laptop noch zur Unterhaltung dabei war: Nationalspieler Steffen Freund bei der WM 1998 | Bild: Imago images/Alternate

Der Fußball ist längst in der Digitalisierung angekommen, das Spiel nahezu vollständig vermessen. In der Analyse gehen die Tools und Statistiken vielen aber zu weit. Dabei sind gerade etablierte Werte eher Unsinn, meint Ilja Behnisch.

Der Fußball wird seit jeher von großen Fragen begleitet, wie zum Beispiel der nach dem besten Spieler aller Zeiten. Ist es Pelé, Maradona, Messi, Cristiano Ronaldo oder doch (wahrscheinlich, Anm. d. Autors) Hans-Jörg Criens? Oder war der Ball von Geoff Hurst zum vorentscheidenden 3:2 im WM-Finale 1966 zwischen England und Deutschland nun vor oder hinter der Linie? Und vor allem und immer: Woran hat es gelegen?

Nun ist diese Frage nicht jedes Mal gleich spannend. Gewinnt zum Beispiel die französische Nationalelf - wie unlängst mit 16:0 gegen Gibraltar, dann wohl kaum, weil die Abordnung des 33.000 Einwohner zählenden britischen Überseegebiets nicht die richtige Einstellung gegen das vor Talent überquellende Frankreich an den Tag gelegt hat. Denn das sind gern mal die Kriterien, mit denen vor allem die Althauer des Sports in ihren Pensions-Nebenverdiensten als Experten um die Ecke kommen. Am besten noch garniert mit einem: "Früher, da hätte es sowas nicht gegeben."

Mehr Pässe, mehr Flanken, mehr Hertha?!

"Modern sind die Zeiten, solange ich denke. Nur besser werden sie nicht", singt die Band "Kid Kopphausen" und wenn es darum geht, dass Menschen von früher erzählen, dann haben sie wohl Recht. Wenn es um den Fußball und die Frage nach dem Warum geht, wird es kompliziert.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel und schauen auf den 5:1-Erfolg von Hertha BSC gegen Elversberg am Sonntag. Klares Ding, könnte man anhand des Ergebnisses meinen. Keinesfalls, hält zum Beispiel die rbb|24-Analyse entgegen. Der Sieg war mindestens mal in der Höhe schmeichelhaft und überhaupt hätte alles auch ganz anders kommen können.

Ach, missgünstige Gebührenknechte, kann man es da förmlich aus blau-weißen Fanherzen rufen hören. Und siehe da: Moderne Zeiten, denn die Statistiken sprechen für sie. Zumindest, sofern man die für sie passenden auswählt: 51 Prozent gewonnene Zweikämpfe etwa notiert das Sportanalyse-Unternehmen Opta für die Hertha im Spiel gegen Elversberg. Und die Laufleistung fällt mit 122,27 zu 121,94 Kilometer für Hertha aus! Das lässt auf Willen und Einsatz schließen! Ha, Ho, He! Zudem noch 53 Prozent Ballbesitz für die Berliner, mehr gespielte Pässe, mehr geschlagene Flanken, mehr Dribblings, mehr Hertha!

Die Zweikampfquote ist ein fragwürdiger Wert

Das Problem: Viele dieser Werte sind mindestens mit Vorsicht zu genießen. Es beginnt schon damit, dass die Daten von Anbieter zu Anbieter unterschiedlich ausfallen können. Das liegt an so einfachen wie zugleich schwierigen Fragen, wie: Wann genau ist eine Mannschaft eigentlich in Ballbesitz? Oder: Was ist ein gewonnener Zweikampf? Wenn ein ballführender Spieler vor einem Verteidiger zurückweicht, war das dann ein Zweikampf? Und wer hat ihn gewonnen? Was ist, wenn der Ball ins Aus rollt? Und wie bewertet man eine Spielsituation, in der zwei Verteidiger einem Angreifer den Ball wegnehmen? Hat dann einer der beiden Verteidiger den Zweikampf verloren?

Die Angabe über prozentual gewonnene oder verlorene Zweikämpfe lässt also nahezu überhaupt keine Schlussfolgerungen zu, andere Werte wie Ballbesitz und Laufleistung müssen wenigstens im Kontext gesehen werden. Mannschaften mit einer auf Konter ausgelegten Taktik haben naturgemäß weniger Ballbesitz, dafür in der Regel eine höhere Laufleistung. Liegen sie in beiden Kategorien hinten, besteht hingegen mindestens mal Erklärungsbedarf.

Deutlicher erscheinen da schon all jene Datenerhebungen, die die Fußball-Welt in Liebe und Hass geteilt haben, weil die einen sie als verkopfte Spinnerei ablehnen und die anderen in ihnen den Schlüssel erkannt haben, der ein für allemal klärt: Woran hat es denn nun gelegen?!

Auch "Expected Goals" hat Schwächen

"Expected Goals" etwa ist so ein Wert. Er bestimmt, wie wahrscheinlich ein Torabschluss aus einer expliziten Situation heraus zum Erfolg führt. Einfachstes Beispiel ist der Elfmeter. Historisch betrachtet werden rund 77 Prozent der Strafstöße auch verwandelt, weshalb sich ein xG-Wert von 0,77 ergibt. Im Spiel jedoch hat auch dieses Tool seine Schwächen. So wird das Spielfeld für den Vergleich mit früheren Situationen in verschiedene Zellen eingeteilt. Allerdings sind Spielfelder verschieden lang und breit, somit können auch die Zellen nicht identisch sein. Zudem ist die Frage, wie akkurat die statistischen Vorlagen erhoben wurden und überhaupt: Lassen sich verschiedene Mannschaften, Spieler und Wettbewerbe einfach so miteinander vergleichen?

Außerdem zählt eine Torchance nur dann in das "Expected-Goals"-Ranking hinein, wenn es auch einen tatsächlichen Kontakt mit dem Ball gab. Die hundert-, ach, tausendprozentige Chance, bei der der Stürmer zwei Meter und frei vor dem herrenlosen Tor den Ball um eine Grasnarben-Länge verpasst, taucht in der xG-Statistik schlicht nicht auf.

Doch es gibt jede Menge Zahlen und Statistiken, die sehr wohl Aussagekraft haben. So spielt Hertha BSC in dieser Zweitliga-Saison etwa die zweitwenigsten, progressiven Pässe der Liga [fbref.com]. Heißt: Der Ball wird viel "geschleppt". Zudem erzielt die Mannschaft ihre Tore im Schnitt aus einer Entfernung von 17,2 Metern, nur Schalke (16,1) und der Karlsruher SC (16) kommen dem gegnerischen Torhüter bei ihren Torerfolgen näher Richtung Atem. Ist ja schön und gut, könnte man nun meinen und fragen: Aber was hat man nun davon?

Große Fragen, nicht so große Denker

Attributionstheorie nennt sich das in der Psychologie, was eine Antwort sein könnte. Dabei geht es um das Verlangen nach subjektiver Kontrolle und den Wunsch danach, die Dinge zu verstehen. Um in Zukunft einen Nutzen daraus schlagen zu können. Das Blöde am Fußball auf höchstem Niveau nun ist, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Akteuren schrecklich marginal sind. Was dazu führt, dass die Suche nach statistischen, empirischen Erklärungen inzwischen zwar längst valide Antworten liefert. Jedoch kaum welche, die leicht zu konsumieren sind.

Weshalb die Zweikampfquote als Gradmesser für Einsatz (!) und Willen (!) den Fußball vermutlich noch eine ganze Weile begleiten werden. Der Fußball, er wird seit jeher von großen Fragen begleitet. Nicht unbedingt von großen Denkern.

Sendung: rbb24 Inforadio, 4.12.2023, 9:15 Uhr

Beitrag von Ilja Behnisch

6 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 6.

    Das Foto von 1991 ist ja klasse!

  2. 5.

    Ein schöner Beitrag! Danke!
    Aber irgendwas muss doch dran sein. Der Engländer Tony Bloom hat schon mindestens zwei Mannschaften auf stochastischer Basis zusammengebaut. Recht erfolgreich. Er kauft Spieler nach genau diesen Werten und puzzelt damit eine geschlossene Mannschaft zusammen. Respekt!

  3. 4.

    Herrlicher Text!! Das meist alberne Rumgezähle wird ja dann überraschend angepasst, wenn der Trend ein mieser Verräter ist! Nach allen Zahlen hätte Hertha gegen die SVE untergehen müssen, allein sie hat gewonnen!
    Analogweisheit Neuberger: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Das lässt sich zum Glück nicht immer planen, sonst hätten wir Reißbrettfußball, und der wäre echt öde. ImPokal wirds offensichtlich: Das Unplanbare, Überraschende zeigt sein breites Grinsen - gut so, bester Wettbewerb!!
    Sollte man bei der DFL mal drüber nachdenken, siehe Relegationsmodus…

  4. 3.

    Waren sie schon einmal in einer "Fankurve"? Gerade die, die dort stehen, interessieren sich nun so garnicht für diese Statistikspiekereien. Das ist eher was für die sky und dazn Abonennten auf dem Sofa oder Besucher der Sky Kneipe.

  5. 2.

    Für die Fussball Fans gibt die Statistik doch Gesprächsthemen, bei vielen, gerade die Fankurven Besucher werden das für den Stammtisch nutzen um stundenlang über Statistiken zu reden

  6. 1.

    Grundsätzlich wurden und werden im Fußball im Vergleich zu Sportarten aus den amerikanischen Profiligen (Football, Baseball, selbst Basketball) sehr wenige Daten erhoben. Vor allem Daten für einzelne Spieler findet man nur einen Bruchteil dazu. Jetzt versucht der Fußball mehr und mehr zu generieren, aber ich gebe dem Artikel recht, so richtig sinnvoll sind sie nicht bzw ihre Interpretation eher zweifelhaft

Nächster Artikel