Missbrauch, Gewalt und Langzeitfolgen - Betroffene berichten Baerbock von Zuständen in DDR-"Kindergefängnis" Bad Freienwalde

Fr 06.01.23 | 18:21 Uhr
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Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (2.v.l), Bündnis 90/Die Grünen) besucht mit den Betroffenen Conny Kurtz (l), Andre Pahl (3.v.l) und Roland Herrmann das sogenannte Kindergefängnis aus DDR-Zeiten und legt eine weiße Rose am Mahnmal ab. (Quelle: dpa/Jens Kalaene)
Audio: Antenne Brandenburg | 06.01.2023 | Elke Bader | Bild: dpa/Jens Kalaene

Die Zeit im DDR-Durchgangsheim Bad Freienwalde hat viele der Jugendlichen nachhaltig traumatisiert. Betroffene berichteten jetzt der Bundestagsabgeordneten Baerbock vom Missbrauch. Der Besuch wurde von Protesten gegen die Ukraine-Politik begleitet.

Hinten, ganz am Ende des Gangs, da war ihre Zelle. Heute ist da ein sauber lackierter blauer Türrahmen, dahinter eine Amtsstube des Polizeireviers Bad Freienwalde (Märkisch-Oderland). Früher aber war Cornelia Kurtz in dem winzigen Zimmer mit den dicken Mauern eingesperrt, als 16-Jährige, zu DDR-Zeiten. Wie sie sich fühlt, wieder hier zu sein? "Aufgeregt."

20 Jahres voller Leid

Mit der Grünen-Politikerin und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kam Cornelia Kurtz, heute 62 Jahre, am Freitag zurück an den Ort, der in der DDR offiziell "Durchgangsheim" hieß. Für die dort festgehaltenen Jungen und Mädchen war es schlicht ein "Kindergefängnis". Von 1968 bis 1987 brachten die DDR-Behörden dort Kinder und Jugendliche zeitweise unter, bevor sie in ein Heim oder in einen Jugendwerkhof gebracht wurden. Seit 2017 ist in dem renovierten Gebäude die Polizei untergebracht.

"In der Gemeinschaftszelle war es ja noch schlimmer"

Cornelia Kurtz war Ende der 1970er Jahre zwei Monate in dem einst als preußische Haftanstalt errichteten Bau. Sie erinnert sich so: Nach häuslichem Missbrauch war sie zu Hause abgehauen und hatte die Schule geschwänzt. Die Polizei griff sie auf, ihr Vater brachte sie zum Jugendamt, das sie wiederum ins "Durchgangsheim" verfrachtete.

Zuerst kamen acht Tage Einzelzelle. "Wobei ich sagen muss: Ich war gerne in der Einzelzelle, in der Gemeinschaftszelle war es ja noch schlimmer", erzählte die 62-Jährige. "Man wurde ja von den Erziehern - also nicht von allen Erziehern, aber von manchen Erziehern - ja auch noch missbraucht, körperlich und sexuell missbraucht."

Nach ihren zwei Monaten in Bad Freienwalde kam Kurtz in einen Jugendwerkhof, bis zu ihrem 18. Geburtstag. "Und dann, gar nichts, ich bin rausgekommen, habe keinen Beruf gehabt, nichts." Bis heute habe sie sich mit Hilfsarbeiten durchgeschlagen. Gleichzeitig kämpfte sie jahrelang um Rehabilitation und Entschädigung. Erst 2018 bekam sie die Anerkennung.

"Was habe ich verbrochen?"

Ähnliches erlebte auch Roland Herrmann vom Verein "Kindergefängnis Bad Freienwalde". Er stellt sich bis heute die Frage, was ein Kind verbrechen muss, um eingesperrt zu werden. Herrmann ist 1980 in das damalige Durchgangsheim gekommen. Er sei als 14-Jähriger nicht mit seinem Stiefvater zurechtgekommen und wollte von zu Hause weg, wie er am Freitag berichtet. "Was habe ich verbrochen? Ich habe dem DDR-Staat vertraut, aber die Jugendhilfe hat mich hier reingesteckt." In dem Heim lebten die Jugendlichen abgeschottet, wurden geschlagen und mussten Zwangsarbeiten verrichten, erzählt Herrmann der Grünen-Politikerin.

Betroffene kämpfen um Anerkennung der Folgen

Baerbock, die in ihrer Rolle als brandenburgische Bundestagsabgeordnete kam, lenkte zwar die Aufmerksamkeit auf den historischen Ort, hörte aber vor allem zu. Erst am Ende äußerte sie sich: "Das muss man sich selber vorstellen, wenn 14- oder 16-Jährige, aber auch Drei- oder Vierjährige in eine Zelle gekommen sind, einfach dafür, weil sie ihren Eltern weggenommen wurden oder weg wollten."

An diesem Ort und anhand der Berichte sehe man, dass Menschen, die als Kinder und Jugendliche dort eingesperrt worden sind, die Erinnerung und Folgen mit ins Grab nehmen werden, so Baerbock weiter. Das bestätigt auch Maria Nooke, die Landtagsbeauftragte zur Aufarbeitung kommunistischer DDR-Diktatur. Viele der damaligen Insassen kämpfen ihr zufolge noch immer um die Anerkennung gesundheitlicher Schäden und müssten dafür anerkannte Nachweise liefern.

Deshalb sei es laut Baerbock wichtig, "dass die Betroffenen nicht immer wieder selber beweisen müssen oder von Gutachten abhängig sind, dass natürlich ihre Zeit in einem Kindergefängnis Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand hatte". Ähnlich wie bei Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus dem Einsatz sollten diese Spätfolgen als gegeben angenommen werden. "Das ist zum Beispiel einer der Vorschläge, die ich mehr als sinnvoll finde", sagte sie mit Blick auf im Bundestag debattierte Gesetzesänderungen.

Protest gegen Ukraine-Politik

Fragen zur Außenpolitik wollte die Bundesaußenministerin an diesem Ort nicht beantworten. Trotzdem holte sie ihr Amt auch in Bad Freienwalde ein: Auf der Straße vor dem heutigen Polizeirevier demonstrierten etwa 30 Menschen gegen ihre Haltung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auf Plakaten wurde ihr Rücktritt gefordert, in Sprechchören skandierten die Teilnehmer "Kriegstreiber" und "Hau ab".

Baerbock habe "uns in ganz Deutschland blamiert, zum Beispiel, mit ihren Ansichten, mit ihrer Kriegstreiberei, das wollen wir einfach nicht", sagte Ramona Gorski, die neben dem AfD-Landtagsabgeordneten Lars Günther unter den Demonstranten stand. Darüber werde zu wenig berichtet. Dann sagte Gorski noch: "Das ist nicht unser Krieg, wir sind bisher ganz gut mit Russland klargekommen. Die haben schon immer Krieg geführt da, auch in anderen Ländern. Und wir müssen darunter leiden, das geht nicht." Die Politikerin ging allerdings nicht auf die Protestierenden ein.

Sendung: Antenne Brandenburg, 06.01.2023, 15:10 Uhr

7 Kommentare

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  1. 7.

    Bis heute verweigert man sich der Aufarbeitung der Unterbringung in den Einrichtungen des "Kombinates der Sonderschulheime der Jugendhilfe" Wobei Sonderschulheim dem einen oder anderen etwas anderes suggeriert, als es tatsächlich war. Während die Durchgangsheime noch weit davor lagen, waren die Jugendwerkhöfe Teil dieses Systems und am Ende der "Aufstiegslinie"

    Die Erinnerung an die brutalste Form der medikamentösen, psychischen und physischen Erniedrigung wird mit zunehmendem Alter in immer kürzeren Abständen von Flashbacks geprägt.
    Mir braucht niemand mehr über irgendwelche "Aufarbeitungsbeauftragten" zu erzählen.
    Wenn es ans Eingemachte geht, dann sind allen "die Hände gebunden". Ich nenne es Schwanz einziehen.
    Und spätestens mit der letzten Gesetzesänderung zum Entschädigungsfonds wurde gezeigt, wie abgrundtief der Unwille zur tatsächlichen Aufarbeitung ist.

  2. 6.

    Für eine Unterbringung im Jugendwerkhof war KEIN Gerichtsurteil nötig. Dafür reichte ein Beschluss der Abteilung Jugendhilfe - Jugendamt. Schulbummelei, Prostitution oder kleinere Diebstähle reichten da aus.

  3. 5.

    "Was hat eine Außenministerin mit Nad Freienwalde zu tun?" => "Baerbock, die in ihrer Rolle als brandenburgische Bundestagsabgeordnete kam, ......"

  4. 4.

    An Jürgen,
    eben doch !
    Ich bin von zu Hause abgehauen weil ich nicht damit klar kam das mein Vater nicht mein leiblicher
    Vater gewesen ist.
    Demzufolge die Schule geschwänzt.
    Ich bin heute noch der Meinung das es Gespräche hätte geben können seiten des Jugendamtes.Dieses war nicht der Fall.
    Ich wurde meinen Eltern weggenommen und weggesperrt, mit 15!...

  5. 3.

    Ein PR Gag von Frau Baerbock, mehr auch nicht. Was hat eine Außenministerin mit Nad Freienwalde zu tun? Dieser Bericht ist in der Form überflüssig, da sind andere handelnde Personen glaubwürdiger.

  6. 2.

    Im Durchgangsverkehr gewesen und dann bis zum 18. Lebensjahr im jugendwerkhof und nur weil man von zu Hause weg wollte. Gute Geschichte! Kein jugendlicher ist für sowas in einen jugendwerkhof gekommen. Vielleicht wäre es mal gut zu erfahren, warum er oder sie vor Gericht gestellt wurde und verurteilt wurde. Dann würde das viel glaubwürdiger klingen.
    Ich möchte damit nicht Übergriffe des Personals oder mitinsassen, egal in welcher Form, irgendwie gut heißen. Die gehören auf jeden Fall aufgearbeitet.
    Guter PR Auftritt von Frau baerbock, mehr aber auch nicht.

  7. 1.

    Die verständnisvollen Worte hören die Betroffenen seit 30 Jahren und das wars dann auch. Sonst wäre dieser Besuch und das Treffen gar nicht mehr nötig gewesen. Wartet man auf einen biologische Lösung?

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