Lieferdienst in Berlin - Warnstreik bei Lieferando: Strampeln bis zur nächsten Bonuszahlung

Do 17.08.23 | 23:06 Uhr | Von Hasan Gökkaya
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Symbolbild: Fahrradkurier vom Internet Portal Lieferando bei der Lieferung von Speisen in der Innenstadt. (Quelle: imago images/R. Peters)
Audio: rbb24 Inforadio | 17.08.2023 | Nachrichten | Bild: imago images/R. Peters

Lieferando-Kuriere protestieren in Berlin. Mit der Forderung nach einem Tarifvertrag wollen sie auch einem umstrittenen Bonussystem entgegenwirken. Wer extra verdienen will, muss derzeit nämlich eine bestimmte Voraussetzung erfüllen. Von Hasan Gökkaya

Sie fahren, wenn die Sonne scheint, und sie fahren auch, wenn es regnet: Lieferboten von Diensten wie Lieferando, Getir und Wolt tragen in Berlin und Brandenburg seit Jahren bei Wind und Wetter Essen und Einkäufe aus. In Deutschland fahren Tausende Essenzusteller täglich auf Fahrrädern, obwohl die Bezahlung sich nur am Mindestlohn entlanghangelt - und zum Teil leistungsabhängig ist.

Das führte am Donnerstag zu einem Warnstreik vor der Unternehmenszentrale von Lieferando in der Hauptstadt. Tatsächlich brodelt es schon seit Monaten im Hintergrund: Auf der einen Seite steht der Marktführer Lieferando, der betont, Jobs zu sichern. Auf der anderen eine Gewerkschaft, die die Kuriere vertritt und dem Unternehmen vorwirft, auf eine "Hinhalte-Taktik" zu setzen und Kosten zu Lasten der Kuriere drückt.

Gewerkschaft: "Die 14 Euro sind keineswegs sicher"

Konkret fordert die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) von Lieferando Verhandlungen, um einen Tarifvertrag zu besiegeln - bislang gibt es keinen, obwohl der Marktführer bundesweit mit 35.000 Restaurants kooperiert und Tausende Kuriere beschäftigt. Hinter dem Unternehmen steht der niederländische Konzern Just Eat Takeaway. Tarifverhandlungen seien bisher seitens des Unternehmens abgelehnt worden.

Auf Nachfrage von rbb|24 teilt eine Sprecherin von Lieferando mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei durchschnittlich mehr als 14 Euro liege - das sei mehr als Beschäftigte in der normalen Gastronomie verdienten. NGG will aber einen Stundenlohn von mindestens 15 Euro als Basiszahlung und ein 13. Monatsgehalt durchsetzen. Außerdem sollen Zuschläge für Sonn- und Feiertagsschichten fließen.

Doch zurück zum Stundenlohn: 14 Euro pro Stunde? "Das ist mehr, als Servicekräfte der Gastronomie verdienen und vergleichbar viel wie Lieferfahrer der Systemgastronomie nach Tarif", so die Sprecherin. Mark Baumeister von der Gewerkschaft NGG kontert und spricht von "Fake News".

Konkret erhalten die Kuriere Baumeister zufolge den Mindestlohn von 12 Euro - erst durch "zeitlich befristete Zuschläge" wie etwa für spätes Arbeiten würden die Fahrer auf 14 Euro pro Stunde kommen. "Die Zuschläge kann der Arbeitgeber aber jederzeit widerrufen. Die 14 Euro sind also keineswegs sicher." Den Vergleich mit der Gastronomie hält er für falsch, weil es in der Gastronomie Urlaubs- und Weihnachtsgeld gebe, anders als bei Lieferdiensten.

Fahrer: Geld über Sicherheit gestellt

Der Warnstreik hat das Bezahlsystem des Unternehmens weiter in die Öffentlichkeit getragen. Laut NGG sieht es bei anderen Unternehmen, die Kuriere beschäftigen, allerdings nicht besser aus. Tatsächlich zahlt nach rbb|24-Informationen auch das Unternehmen Getir pro Stunde ähnlich viel. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Istanbul schluckte Ende 2022 das in Berlin rasant gewachsene Start-up Gorillas, seitdem gibt es "Gorillas" noch als Marke, aber nicht mehr als Unternehmen. Zuvor hatte es bei Gorillas erhebliche Kritik an den Arbeitsbedingungen gegeben.

Ein weiterer Kritikpunkt am Bezahlsystem solcher Unternehmen ist das Bonussystem. Bei Lieferando verdienen Fahrer ein Basisgehalt und oben drauf Bonuszahlungen. Einem Bericht von Report Mainz zufolge [ardmediathek.de] hängt die Bonuszahlung aber von der Anzahl der Fahrten und der Strecke der Lieferstrecke ab. Wozu das führe, formuliert in dem Bericht ein Fahrer so: "Ich habe manchmal das Geld über meine Sicherheit gestellt." Der Fahrer gibt an, ohne Bonuszahlungen monatlich 1.700 Euro brutto zu verdienen.

Denn ob "Bonus", "Trinkgeld" oder "variable Lohnkomponente", wie Lieferando es formuliert: Das Boni-System legt in dieser Branche nahe, dass Kuriere mehr Gehalt verdienen, wenn sie schlicht mehr Kunden abwickeln - und eben weniger, wenn zum Beispiel keine Bestellungen eingehen, obwohl die Arbeitsuhr weiterhin tickt.

Derzeit zahlt Lieferando nach eigenen Angaben ab der 26. Lieferung im Monat Boni, ab der 100. Lieferung gibt es einen "erhöhten Bonus". Für einen Lieferboten in Vollzeit ergebe das einen Zusatzverdienst von durchschnittlich 400 Euro monatlich.

Gibt es eine gesetzliche Grauzone?

In der Lieferdienst-Branche stehen solche Boni nicht nur in der Kritik, weil sie zu erheblichen Schwankungen im Einkommen führen können. Sondern auch, weil sie die Sicherheit der Fahrer gefährden sollen. Eigentlich regelt die Fahrpersonalverordnung Ruhezeiten und Pausen und betrifft vor allem Berufskraftfahrer, um die Sicherheit im Verkehr zu regeln. So ist beispielsweise der Akkordlohn für Lkw-Fahrer verboten, damit sichergestellt wird, dass sie sich nicht - um mehr Geld zu verdienen - übermüdet ans Steuer setzen oder zu schnell fahren.

Gewerkschafter halten diese Verordnung auch für die Mitarbeiter von Lieferdiensten anwendbar. Zum einen seien ohnehin Teile der Flotte mit Autos oder Rollern unterwegs, zum anderen würden Elektrofahrräder im Straßenverkehr eingesetzt werden, argumentiert Baumeister von NGG. Er sagt, dass Lieferando die Verordnung ignoriere und sich bewusst in einer Grauzone aufhalte.

Denn mit der Verordnung wäre das Bonus-System im Lieferdienst gar nicht erlaubt - und das halte er auch für richtig, so Baumeister. "Von der Gefährdung her ist es eine Analogie, ob jemand auf dem Fahrrad ohne Knautschzone durch die Stadt fährt oder in einem Lkw mit Airbag unterwegs ist."

Mit Lieferando scheint Baumeister einen zähen Gegenspieler zu haben. Wie weit das Unternehmen bereits verzweigt ist, zeigte sich am Donnerstag, als der Warnstreik lief: "Berliner Konsumenten können weiterhin mittels Lieferando bestellen", hieß es in einer Mitteilung von Lieferando. Denn Restaurants mit eigenen Fahrern seien gar nicht vom Streik betroffen.

Hinweis: In einer früheren Version stand im Text: Auf Nachfrage von rbb|24 teilt eine Sprecherin von Lieferando mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei 14 Euro liege. Tatsächlich teilte die Sprecherin mit, dass der aktuelle Stundenlohn bei durchschnittlich mehr als 14 Euro liege. Der Fehler wurde korrigiert.

Sendung: Abendschau, 17.08.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Hasan Gökkaya

25 Kommentare

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  1. 25.

    Ausbeutung gab es zu Kaisers Zeiten, als 99% der Menschen überhaupt keine Möglichkeit hatte, sich hochzuarbeiten, weil allein schon der Zugang zu Bildung nur per Geburt möglich war, z.B. nur dem Adel vorbehalten war. Heute hat jeder die Möglichkeit das Beste aus seinem Leben zu machen, daher von Ausbeutung zu sprechen ist leicht unverschämt.

  2. 24.

    Ausbeutung?

    14 Eur zzgl Trinkgeld für ungelernte Mitarbeiter sind sehr wohl angemessen und alles andere als Ausbeutung

    Wenn ich Lust auf eine Pizza habe, bestelle ich mir eine. Mir ist egal, was der Bote verdient.

    Das nennt man Service. Aber Deutschland ist ja eine Servicewüste

    Letztlich machen die Mitarbeiter den Job freiwillig und ohne Zwang

  3. 23.

    Ich gehöre zu den Faulen und finde das völlig ok wenn jemand für mich Dienste übernimmt. So ist gesichert das eigentlich jeder für sich sorgen kann und jeder kann nach seiner Qualifikation seinen Job ausführen. Wie schon berichtet ab es schon immer Hilfsarbeiter früher wurden Kohlen ausgeliefert heute eben essen.

  4. 22.

    Ich glaube kaum, dass das Klientel der Bestellwütigen die Alten, Kranken und Gebrechlichen sind. Zu 95% sind das ganz normale Mitbürger:innen, die alle nicht kochen wollen, nicht kochen können oder einfach auch nur ab und an mal eine Pizza to go oder Ähnliches bestellen. Und die könnten, wenn die Lieferfahrer:innen ihnen wegen der schlechten Bezahlung leid tun, ja letztendlich dann ein dickes Trinkgeld geben. Aber, wie schon an anderer Stelle gesagt, wenn es an den eigenen Geldbeutel geht, sind alle auf einmal nicht mehr so sozial denkend.

  5. 21.

    Darauf habe ich gerade gewartet-jetzt sind diese Ausbeuterläden schon notwendige Serviceunternehmen für Alte, Kranke und Gebrechliche.
    Und damit ist es wohl eine christliche Pflicht für die dort Beschäftigten, sich nach Strich und Faden ausnehmen zu lassen?
    Aus meinem eigenen Wohnumfeld: Die alten Menschen hier, die sich nicht mehr selbst bekochen können, beziehen ihre Mahlzeiten von den darauf spezialisierten Unternehmen von Caritas u.ä.
    Da bestellen wohl die Wenigsten abends ihre Familienpizza mit extra viel Käse bei den einschlägigen Lieferandos.

  6. 20.

    Wer darauf angewiesen ist, wird dann eben seltener oder weniger bestellen.
    Ich fände es natürlich gut, wenn ich mir verschiedene Lieferservices (und das betrifft ja nicht nur die Fast Food-Lieferer, um die es im Artikel geht) auch weiterhin leisten könnte. Derzeit versuche ich durch Trinkgelder zumindest den Weg zu mir ein wenig auszugleichen. Das könnte ich dann vielleicht nicht mehr in dem Maße. Aber ja, es würde mein Gewissen beruhigen zu wissen, dass die Leute nach Tarif bezahlt werden. Ich lebe ungern auf dem Rücken anderer. Geiz ist nun mal nicht geil, sondern meist unsozial.

  7. 19.

    "Die Lieferfahrer aller Firmen sollten tarifvertraglich gesichert arbeiten können."

    Dann werden Alte, Kranke und Behinderte sich keinen Lieferservice mehr leisten können. Die Hochmoral endet nämlich spätestens beim eigenen Geldbeutel.

  8. 18.

    Lesen sie auch oder empören sie sich nur? Das Warum habe ich beschrieben. Es sind einfache Tätigkeiten, die jeder ausführen kann, der nicht gerade 100 Kippen am Tag raucht. So, wie Paketfahrer, Putzfrauen, Tankstellenjobber ect. Früher gab es für Ungelernte Jobs wie Bauhelfer oder Staplerfahrer. Heute sind das halt solche Tätigkeiten.

  9. 17.

    Dann knallen diese Geschäftsmodelle halt zusammen und Aktionäre verlieren Geld. Und weiter?

  10. 16.

    Studierten steht es frei ebenfalls für mehr Lohn zu demonstrieren. Arbeiter aller Länder und so, kennen Sie sicher.

  11. 15.

    Warum den das? Dieser Job ist eben für nicht qualifizierte gedacht, früher waren das Studentenjob als Aushilfe. Dafür sind 14€ absolut ok"
    Ob die Arbeitsbedingungen, um die geht es, nicht nur um den Lohn, "absolut ok" sind oder nicht, darüber entscheidet nun mal nicht ein Internet-Forum sondern die Verhandlung zwischen organisierten Arbeitnehmern und sog. Arbeitgebern.
    Und das ist auch gut so.

  12. 14.

    "Ausbeutung der Notlage der Beschäftigten?" Geht es vielleicht ne Nummer kleiner? Das ist ein Job ohne jegliche Vorkenntnisse und Einarbeitung, geeignet als Überbrückung, Ferien oder Studentenjob. Machen die wenigsten auch in Vollzeit und dafür ist es doch völlig o.k. Wenn es mir nicht passt, dann unterschreibe ich keinen Arbeitsvertrag und such mir was anderes, ganz einfach. So lange es Kunden gibt, werden diese Lieferdienste mit ständig wechselnden Personal existieren.

  13. 13.

    Luxus für faule Großstädter. Ich schätze, 95% der Kundschaft kann einkaufen oder ins Lokal gehen! Matschpampe aus dem Becher (und mehr kommt meist nicht an, weil die Mehrzahl der Mahlzeiten einfach für durch die Gegend fahren nicht gedacht ist) schmeckt eh nicht und die fußlahme Omi wird das nicht nutzen. Die Fahrer sollen nicht ausgenutzt werden, aber 12 - 14€/h für einen Nebenjob (und mehr sollte sowas nicht sein!) ist prima. Und jeder, der bestellt, möge wenigstens Trinkgeld geben!

  14. 12.

    Der zurückzuverdienende (Bildungs)Aufwand ist vergleichsweise klein. „Studentenjobs“, die man ohne Vorkenntnisse machen kann, muss es auch geben. Es muss nicht alles hochqualifiziert sein. Warum? Weil die Menschen das so wollen.

  15. 11.

    Lieferdienste jeglicher Art werden nicht nur von Menschen genutzt, die „zu faul“ sind, sondern auch von Alten, Kranken oder Behinderten, die zumindest zeitweilig ohne Hilfe sind oder ihre Selbständigkeit bewahren wollen.
    Die Lieferfahrer aller Firmen sollten tarifvertraglich gesichert arbeiten können.

  16. 10.

    Das sind zumeist nur kurzfristig funktionierende Geschäftsmodelle, die auf einer gnadenlosen Ausbeutung der Notlage der Beschäftigten und der unzureichenden Kalkulation der Essenslieferanten aufbauen.
    Wenn die Beschäftigten sich organisieren und wehren und die Lieferanten einmal mit spitzem Bleistift nachrechnen, knallt dieses Liefersystem in kürzester Zeit zusammen.
    Das gilt i.Ü. für die meisten dieser hippen Start-Up-Ideen.

  17. 9.

    Warum den das? Dieser Job ist eben für nicht qualifizierte gedacht, früher waren das Studentenjob als Aushilfe. Dafür sind 14€ absolut ok. Warum erwarten alle, dass man da 20€ verdienen sollte und jemand der studiert hat oder deutlich mehr Verantwortung dann genauso viel ? Nein das sind niedrige Jobs die man macht oder sucht sich was anderes!! Ich finde das absolut fair. Es ist Fahrradfahrer keine Wissenschaft, sicher nicht ohne aber nicht mehr. Lasst doch dieses jaulen- wer nicht will Wechsel

  18. 8.

    Find ich auch. Meinetwegen können die 20 EUR / Std bekommen. Dann wird das Liefern so teuer, dass sich die Nachfrage erledigt und es werden weniger davon. Ich staune eh immer weider, wofür die Leute alles Geld ausgeben, nur weil es möglich ist.

  19. 7.

    Ich stelle mir immer die Frage wie sich so ein Lieferdienst rechnet, wenn eine Malzeit 13 € kostet, wie viel Essen der Lieferdienst ausfahren muss um wirtschaftlich zu sein? Neben den Personalkosten (inkl. Urlaub, Krankheit) müssen die für das Fahrrad (Anschaffung, Reparatur etc.) berücksichtigt werden. Fährt denn der Lieferdienst soviel ein um kostendeckend zu fahren? Ich bin sicher, das passiert nicht, das kann sich nicht rechnen, nicht mit sozialversichertem Personal.

  20. 6.

    Klar, weil man selbst grottig schlecht bezahlt wird, soll es anderen gefälligst nicht besser gehen.
    Wo kommen wir denn sonst hin????????????????

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