Theaterkritik | "Das Dinner" am DT - Mord zum Digestif

Zwei Paare treffen sich zum Essen und streiten über ihre Kinder. Klingt nach komödiantischer Wohnzimmerschlacht - doch "Das Dinner" ist auf der Bühne des Deutschen Theaters ein Moral-Thriller. Von Barbara Behrendt
Man kann ihn ja so gut verstehen. Den Mann, der im Nobelrestaurant nicht darüber hinwegkommt, wie überkandidelt der Kellner seinen kleinen Finger zum "Gruß aus der Küche" dem Teller nähert, um die "griechische Olive von der Peloponnes" auf dem einsamen Porzellan vorzustellen, "zart beträufelt mit einem Olivenöl extra vergine aus Nordsardinien", "bekrönt" vom Rosmarin aus dem eigenen Kräutergarten.
Bekrönt? In der Tat. Ulrich Matthes spielt den bodenständigen, leicht verschrobenen Restaurantgast (Lehrer von Beruf) mit sarkastischem Humor und traumwandlerischer Schlagfertigkeit.

Ulrich Matthes: zunächst der Sympathieträger
Am liebsten wäre dieser Paul Lohmann aus "Das Dinner", inszeniert am Deutschen Theater nach dem Roman "Angerichtet" von Herman Koch, mit seiner Frau Claire in der "Normalo-Kneipe" ums Eck geblieben. Aber Pauls Bruder Serge hat mit seiner Frau Babett zum Abendessen geladen, um Wichtiges zu besprechen: die Zukunft ihrer Kinder.
Serge Lohmann ist der sozialdemokratische Kandidat bei der anstehenden Wahl zum Ministerpräsidenten der Niederlande - Bernd Moss spielt die Figur als Inbegriff des uncharismatischen Berufspolitikers, optisch ein Kandidat für die Fielmann-Werbung. Ein Klassenaufsteiger, der auf großen Wein-Connaisseur macht, dabei immer auf Pseudo-Nähe zum Volk bedacht. An seiner Seite Wiebke Mollenhauer als First Lady in spe. Von Kopf bis Fuß in Rot, Sonnenbrille über den verweinten Augen, stellt sie ihre Ehekrise vehement zur Schau.
Aus bruchstückhaften Rückblenden entsteht ein Thriller
Und so finden sich die Vier ziemlich verspannt am extravaganten Glastisch auf der Bühne ein, hinter ihnen ein Fenster zur offenen Küche, um sie herum die beflissenen Servierer, die alle paar Sekunden Wein nachschenken - der natürlich literweise fließt.
So weit, so vertraut. Doch dass sich die Kinder hier nicht im Yasmina-Reza-Boulevard-Stil einfach nur ein paar Zähne ausgeschlagen haben, deutet schon der dunkel dräuende Bass auf der Soundspur an. Die Aussprache wird zwar bis zum Eklat beim Dessert verdrängt. Doch aus vielen Bruchstücken und Rückblenden setzt sich langsam ein veritabler Thriller zusammen: Paul, der auf dem Handy seines 15-jährigen Sohnes Michel ein Video findet, auf dem Michel mit seinem Cousin (Serges und Babetts gleichaltriger Sohn) einen Penner zusammenschlägt. Eine Nachricht auf Michels Telefon von Pauls Frau, die sagt: "Tu es heute Nacht, dein Vater weiß von nichts." Schließlich das Video im Fernsehen, das zwei Teenager zeigt, die eine Obdachlose anzünden - Paul erkennt seinen Sohn und den seines Bruders darauf. Aber was weiß Pauls Frau Claire?
Tomaten in die Fresse, Karotten in die Nase
Auf der Bühne spielt das Restaurantpersonal die Gewaltszenen mit Gemüse nach und filmt sich dabei: Tomaten in die Fresse, Karotten in die Nase, delikate Bratensoße übers Gesicht. Auch jene Szenen, die Pauls Gewaltexzesse zeigen - als sein Sohn vier Jahre alt ist und seine Frau auf Leben und Tod im Krankenhaus liegt, schlägt Paul seinem Bruder den Kopf ein, als der den Kleinen zu sich nehmen will. Seinen Job als Lehrer hat Paul vor Jahren schon verloren. Diagnostiziert ist er mit einer neurologischen Erberkrankung.
Mehr und mehr wird aus dem leicht verschrobenen Lehrer, dem unsere Zuneigung gilt, ein unkalkulierbarer Typ ohne Impulskontrolle. Alle gewonnenen Sicherheiten gehen verloren - und die Sympathien verkehren sich ins Gegenteil. Ausgerechnet der opportunistische Serge kämpft nun um Moral und Wahrheit und will die Bombe über die wahren Totschläger der Obdachlosen platzen lassen.
Maren Eggert als Ehefrau Claire legt allerdings den größten Temperamentswechsel hin. Von der souverän zurückhaltenden Ehefrau mutiert sie zur radikalen Kämpferin für das Glück ihres Sohnes. Von "Es ist doch gar nichts passiert!" über "Wir wollen ihm keine Schuldgefühle einreden!" bis hin zu "Warum hat sich diese Obdachlose ihm in den Weg gelegt?" argumentiert sie sich schrill in die Verblendung. Oder ist das die neue Moral, wenn's im Bürgertum ums Eingemachte geht?

Fragen über Moral, Glück, Wahrheit und Gewalt
Der Regisseur András Dömötör hat das Buch klug gekürzt, stößt jedoch an das gängige Adaptionsproblem: Wenn erzählte Roman-Szenen zu Dialogen werden, sagen die Figuren Dinge, die sie eigentlich nie aussprechen würden. Herman Kochs gerissener Trick im Roman ist es, uns immer tiefer in die amoralischen Gedankengänge seines Erzählers Paul zu führen. Auf der Bühne verschiebt sich das Erzählen auf alle Figuren, was den bösen Zauber deutlich abschwächt.
Allerdings ist es bereits ein Problem der Romanvorlage, dass Paul unter einer psychischen Erkrankung leidet. Alle Fragen, wie man selbst in einer solchen Drucksituation reagieren würde - das Familienglück auf alle Ewigkeit verdammen und den eigenen Sohn anzeigen, oder den Sohn beschützen und die Zeugen aus dem Weg schaffen - sind davon beeinträchtigt. Nur ein Vater, der seinen eigenen Bruder krankenhausreif schlägt, kann so einen brutalen Sohn haben. Oder etwa nicht?
Zudem führt András Dömötör das Kammerspiel mit exaltierten Szenen und zusätzlichen Pointen letztlich eben doch in Richtung Boulevard. Die Fragen über Moral, Glück, Wahrheit und Gewalt in der gutbürgerlichen Gesellschaft stellt die Inszenierung trotzdem spannungsvoll. Und das Deutsche Theater hat mit dieser Starensemble-Besetzung endlich einen Abend im Programm, der das Haus füllen wird. Ein bisschen schärfere Kanten hätte er aber durchaus haben dürfen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.10.2024, 8:55 Uhr
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