60 Jahre Gropiusstadt - "Klein-klein können wir uns nicht mehr leisten"
Viele bezahlbare Wohnungen auf wenig Fläche – so sollte die Berliner Gropiusstadt die Wohnungsnot lindern. Doch sie galt schnell als Problemviertel. Zu ihrem 60. Geburtstag herrscht erneut Wohnungsmangel. Kann sie eine Blaupause für die Zukunft sein? Von Jannis Hartmann
"In der Anfangszeit war es wirklich schwierig", sagt Hans-Georg Miethke. Ärzte habe es damals nicht gegeben in der Gropiusstadt, erklärt der 80-Jährige. Da habe man in die Stadt fahren müssen. Der ehemalige Postbeamte hatte eine Genossenschaftswohnung des Beamten-Wohnungs-Vereins ergattert, sechste Etage. Heute lebt er mit seiner Partnerin im ersten Stock, 74 Quadratmeter für 550 Euro warm.
Miethke zog 1969 in die Gropiusstadt im West-Berliner Süden. Sieben Jahre vorher, genauer: am 7. November 1962, war der Grundstein für Berlins erste Trabantenstadt gelegt worden – in Anwesenheit des damals regierenden Bürgermeisters Willy Brandt und des eigens aus New York angereisten Planers Walter Gropius. Bis heute türmen sich hier in Neukölln über 20.000 Wohnungen so hoch wie nirgendwo sonst in Berlin.
90 Prozent Sozialwohnungen
90 Prozent der Wohnungen wurden als Sozialwohnungen errichtet, vor allem durch die städtische Degewo und Gehag – die war damals noch in kommunaler Hand. Gropiusstadt, das ist viel günstiger Wohnraum, von der Stadt und Genossenschaften auf wenig versiegelter Fläche gebaut.
Wurde in der Gropiusstadt vor 60 Jahren womöglich der Grundstein für die Stadt der Zukunft gelegt? Noch 2012, beim 50. Jubiläum der Siedlung, hätte diese Frage sicher für Irritationen gesorgt. Hochhäuser – die Kulisse sozialer Brennpunkte schlechthin – mitten in Berlin, der Stadt der gründerzeitlichen Mietskasernen?
Einige Klimaproteste, einen Volksentscheid und ein Neubaubündnis später ist die Stimmung zum 60. Jahrestag eine andere. Berlin braucht mehr bezahlbaren Wohnraum, ohne weiter zu zersiedeln. Da ist man sich einig.
Flucht in Richtung Himmel
Auch vor 60 Jahren war Wohnraum knapp, der Mauerbau verschärfte die Not in West-Berlin. Bereits am Tag der Grundsteinlegung war klar: So, wie ursprünglich von Walter Gropius entworfen, würde die neue Siedlung nie gebaut. Es fehlten einfach zu viele Wohnungen.
Die 63 Hektar Baugrund wurden also nicht wie geplant mit 5.000 Wohnungen, sondern mit rund 19.000 bebaut. Und aus Gropius’ kreisrunden, maximal fünfgeschossige Bauten wurden Gebäude-Riegel mit mehr als zehn Etagen. Höhepunkt: Das Hochhaus der Ideal-Genossenschaft stellte mit 90 Metern den deutschen Rekord auf. Wirklich glücklich war Architekt Gropius darüber nicht.
In den 70er und 80er-Jahren galt die Siedlung als sozialer Problemfall. "Überall stank es nach Pisse und Kacke", schildert Christiane F. 1978 in dem Bestseller "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" die Situation in der Gropiusstadt. Nicht nur die Grünflächen zwischen den Hochhäusern seien verdreckt, auch die Treppenhäuser und Flure der Häuser selbst.
In den Nullerjahren wurde aufgewertet
Sind daran die vielen Etagen, die Anonymität in der Großsiedlung schuld? "Ich glaube, man kann Architektur nicht für alles verantwortlich machen, was mit ihr später passiert", sagt Frank Eckardt, der Stadtsoziologe an der Bauhaus-Universität in Weimar ist. Als Gründe für die Probleme der Gropiusstadt sieht er vor allem die Belegungspolitik und die schlechte soziale Infrastruktur. "Aber das hat man nicht so auf dem Schirm gehabt und als Selbstläufer gesehen, der sich zurechtrüttelt", so der Soziologe. Das sei aber nie geschehen. Stattdessen hätten sich die vielen einzelnen Probleme gegenseitig verschärft.
Das Gebot in den Nullerjahren lautete also: Aufwerten. Auch ohne Wohnungsberechtigungsschein konnte man jetzt in die ehemaligen Sozialwohnungen ziehen. Es kamen viele Menschen mit Mirgrationsgeschichte. Wer durch die weitläufigen Grünanlagen spaziert, sieht mittlerweile vor allem Ältere.
Wie Berlins Trabantenstadt wurde, was sie ist
Heute ist die Situation in der Gropiusstadt komfortabel: Für die 38.000 Menschen im Stadtteil sind Gesundheitszentren, KiTas und Shoppingsmalls in erreichbarer Nähe. Auch die Büros des Quartiertsmanagement bieten Anlaufstellen für die Bewohnerinnen und Bewohner. Viele leben noch immer in den vergleichsweise günstigen Wohnungen der Degewo oder der Genossenschaften. Und der Anteil der Sozialwohnungen beträgt beim Degewo-Bestand mittlerweile wieder 60 Prozent. Das entspricht den Vorgaben des Senats, die seit 2016 gelten.
Die Gehag wurde nach ihrer Privatisierung Teil der Deutschen Wohnen. Ihr gehören nun 2.200 Wohnungen in der Siedlung.
Es wird wieder gebaut in der Gropiusstadt
Und es wird wieder gebaut in der Gropiusstadt. Der Beamten-Wohnungsverein hat gerade ein 19 Stockwerke hohes Wohnhaus errichten lassen, dazu ein Nachbarschaftszentrum mit großer Glasfront. Hier gibt es Gemeinschaftsveranstaltungen, Gymnastikkurse zum Beispiel.
Auch die Degewo verdichtet die Siedlung. Wer von der Wutzkyallee in Richtung Lipschitzallee schlendert, kommt an der Baustelle der Gesellschaft nicht vorbei – noch so ein neues Hochhaus: Zwei Gebäudeteile, einmal 19 und einmal 21 Geschosse hoch, insgesamt 151 Wohnungen.
Nur acht Stockwerke lohnen sich nicht
Dirk Seubert, Degewo-Chefplaner für Neubau, legt seinen Kopf in den Nacken und zeigt auf die obersten Etagen: "Wenn wir über die acht Geschosse kommen, dann sollten wir deutlich mehr machen und die 60-Meter-Grenze erreichen", so der Ingenieur. Das habe vor allem Kostengründe. Denn ab der achten Etage und ab 60 Metern gelten jeweils neue Brandschutzvorschriften. Das heiße: mehr Technik, mehr Rettungswege.
Seubert will zeigen, dass gut funktionierende Nachbarschaften und Hochhäuser zusammengehen, sagt er. Dafür zieht er auch Lehren aus alten Fehlern: "Die Eingänge in den Bestandshochhäusern sind zu klein geraten. Das war immer mehr ein Hineinkriechen." Das neue Hochhaus soll darum ein großes Foyer mit Gemeinschaftsraum bekommen, einen echten Begegnungsort für die Nachbarschaft.
"Klein, klein können wir uns nicht mehr leisten"
Auch in den Etagen darüber gelte: Schluss mit dunklen, anonymen Fluren. Dafür sorgen soll eine gebäudehohe Fensterfront. Wer in einer der Sozialwohnungen wohnt, zahlt 6,60 Euro den Quadratmeter nettokalt. Für alle anderen Mieterinnen und Mieter sind es 9,50 Euro – für Neubau ist das günstig.
Dass hier in der Gropiusstadt viele günstige Wohnungen in hohen Häusern gebaut werden ist für Seubert angesichts des Wohnungsmangels auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit: "Klein, klein zu bauen können wir uns nicht mehr leisten."
Sendung: Inforadio, 02.11.2022