Koalition uneinig bei Wohnungsbau und Klimaschutz - Berlin frisst sich weiter in die Fläche

Mit mehr Grün und weniger Beton will sich die rot-grün-rote Koalition in Berlin für den Klimawandel wappnen. Dafür soll die Versiegelung von Boden gestoppt werden. Doch der Bauboom könnte die Trendumkehr ausbremsen - trotz vielversprechender Ansätze. Von Jan Menzel
So als wäre es Butter, drückt der Baggerarm die Schaufel ins Erdreich und hebelt ein Stück der Grundmauer aus dem Boden. Meter für Meter arbeitet sich der große orangene Hydraulikbagger voran. Dort, wo vor kurzem ein kaputtes Gewächshaus stand, liegen jetzt nur ein paar verstreute Glasscherben herum. Das alte Gebäude ist fast komplett abgerissen. Als letztes müssen noch die Fundamente ausgegraben werden.
Wie es aussieht, wenn alles fertig ist, lässt sich auf der großen Freifläche direkt daneben besichtigen. Sand und Erde sind planiert, kein einziger Pflasterstein liegt mehr im Boden. Früher waren hier große Wegflächen betoniert, und noch im Frühjahr standen auf dem Gelände der ehemaligen Bezirksgärtnerei in Marienfelde neun große Gewächshallen. Die Gärtnerei wurde schon vor Jahren aus Spargründen geschlossen. Die Gebäude verfielen zusehends, bis die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) den Auftrag bekam, das Areal am südlichen Stadtrand von Berlin zu renaturieren.
Trockenrasen statt Gewächshaus-Ruinen
Auf einer Fläche so groß wie sechs Fußballfelder sollen künftig Wiesen, Trockenrasenflächen, Sträucher und Bäume vielen Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum bieten. Das neu geschaffene Biotop ist gleichzeitig Teil eines größeren Plans: Wenn in Berlin gebaut wird, muss dafür ein ökologischer Ausgleich her.
"Das erste, was kompensiert wurde, ist der Bau einer Freiwilligen Feuerwehr Rauchfangswerder. Insgesamt haben wir acht Feuerwehren, und da sind überall Ersatzmaßnahmen notwendig", erläutert BIM-Geschäftsführer Sven Lemiss. Anders als bei "klassischen" Ausgleichsmaßnahmen geht die BIM mit der ehemaligen Bezirksgärtnerei aber auch in Vorleistung, sagt Lemiss. Künftige Bauvorhaben, durch die Flächen versiegelt werden, können hier "angerechnet" werden.

Versiegelung nimmt zu
Was in der alten Bezirksgärtnerei im Kleinen passiert, könnte ein Modell für eine nachhaltige Stadtentwicklungs- und Baupolitik in ganz Berlin werden. Doch die Realität sieht derzeit noch anders aus. "Alle fünf Jahre verschwindet ein Prozent Boden, der nicht versiegelt war, im Beton", sagte der stellvertretende Vorsitzende der Berliner Naturfreunde Uwe Hiksch. Laut Umweltatlas des Senats waren 2016 rund 33,9 Prozent der Landesfläche bebaut, asphaltiert oder betoniert.
Aktuellere Zahlen hatte Umweltstaatssekretärin Silke Karcher in der Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage für "voraussichtlich Ende des Sommers" angekündigt. Doch diese Zahlen lassen noch auf sich warten. Weder die Umweltverwaltung noch die Stadtentwicklungsverwaltung wollten sich auf Anfrage äußern. Nach Informationen des rbb ist im Zeitraum 2016 bis 2021 der Flächenverbrauch weiter um 0,5 Prozent gestiegen. Das ist zwar weniger als in den Vorjahren, aber kein Grund zum Jubeln, findet Naturfreund Hiksch: "Der Senat hat keine Trendumkehr geschafft."
"Begrünen, begrünen, begrünen"
Dabei ist dies genau das erklärte Ziel des rot-grün-roten Regierungsbündnisses. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, ein Entsiegelungsprogramm für Berlin zu entwickeln. "Ab spätestens 2030 soll eine 'Netto-Null-Versiegelung' erreicht werden", heißt es da. Für jedes neue Haus, jede weitere Straße und jede zusätzliche Industriehalle müsste demnach an anderer Stelle bebauter Boden wieder aufgebrochen werden - so wie in der ehemaligen Bezirksgärtnerei in Marienfelde.
"Gemessen an der Aufgabe ist das noch ein langer Weg", räumt der umweltpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus Benedikt Lux unumwunden ein. Die Koalition habe mit der Regenwasser-Agentur und einem 30-Millionen-Euro-Programm zur kleinteiligen Stadtverschönerung und Entsiegelung schon einiges angestoßen, findet der Grüne. Die Dimension des Themas sei aber eine ganz andere. "Wir können uns die Devise 'bauen, bauen, bauen' nur leisten, wenn wir gleichzeitig 'entsiegeln, entsiegeln, entsiegeln' und 'begrünen, begrünen, begrünen'."

Koalition im Spagat
Lux macht damit den Spagat deutlich, in dem sich die Koalition befindet. Bauen was das Zeug hält, ist bekanntlich das Credo der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey und ihres sozialdemokratischen Stadtentwicklungssenators Andreas Geisel. Die umweltpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Katalin Gennburg, sieht hier "eine ganz klare Bruchstelle" in der Koalition und verlangt: "Wir müssen der Baupolitik als Klimakiller das Handwerk legen. Wir müssen wegkommen von dieser Betonpolitik und der Logik des reinen Flächenfraßes."
Dass sich Rot-Grün-Rot diesen Zielkonflikt in den eigenen Koalitionsvertrag hineingeschrieben aber nicht aufgelöst hat, wurde von Verbänden wie dem Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) schon beim Amtsantritt der Koalition kritisiert. Die offenen Fragen holen das Bündnis nun ein. "Wir haben einen hoch zerstrittenen Senat, der nicht auf die Straße bringt, was auf die Straße gebracht werden müsste", stellt der baupolitische Sprecher der CDU-Fraktion Dirk Stettner fest. Stettner sieht aber vor allem Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel ausgebremst.
Höher und dichter bauen?
Geisel hatte schon im Frühsommer gegenüber dem rbb bekräftigt, dass er weiter auf Wohnungsbau auch auf der grünen Wiese setzt. Er könne sich aber vorstellen, dass von Gebieten wie der Elisabeth-Aue im Norden Pankows nur ein Teil genutzt werde. Statt das gesamte Gebiet zu entwickeln, könnten Wohnhäuser höher und dichter gebaut werden, schlug der Senator seinerzeit vor. "Das Projekt Elisabeth-Aue haben wir als Linke immer klar abgelehnt", hält die linke Abgeordnete Gennburg ihm entgegen. Und auch ihr grüner Kollege Lux sieht im Interesse des Klimaschutzes nur wenig Spielraum: "Weitere Grünflächen sollten weitestgehend von Bebauung verschont bleiben."
Für Katalin Gennburg ist inzwischen auch erkennbar, dass das Öko-Modell, wie es in der Bezirksgärtnerei Marienfelde praktiziert wird, an seine Grenzen stoßen wird. Die vom Senat geplanten 200.000 neuen Wohnungen ließen sich kaum noch kompensieren. "In Treptow-Köpenick gibt es zum Beispiel keine weiteren Ausgleichflächen für Neuversiegelung", berichtet Gennburg aus ihrem Bezirk.
Verbände planen Volksbegehren
Einen Ausweg deutet der grüne Umweltexperte Lux an. Wenn das Land immer weniger verfügbare Flächen habe, müssten private Grundstückseigentümer stärker in die Pflicht genommen werden, so seine Überlegung. "Deswegen habe ich auch ein Gutachten in Auftrag gegeben, ob Entsiegelungsprämien oder auch Versiegelungsabgaben möglich sind."
Der politische Druck auf Senat und Koalition wird jedenfalls nicht nachlassen. Die Naturfreunde und andere Verbände planen, dem Flächenverbrauch per Volksbegehren einen Riegel vorzuschieben. "Wir denken intensiv darüber nach", sagt Uwe Hiksch dem rbb. In einem ersten Schritt sollen auf diesem Wege alle bestehenden Grünflächen geschützt werden, so der Plan. Und dann müsse es auch um großflächige Entsiegelung im Stadtgebiet gehen, sagt der Umweltschützer: "Hier gibt es noch sehr viel zu tun."
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.10.2022, 06:50 Uhr